Mit jedem israelischen Angriff mit zivilen Opfern in Gaza wächst die Kritik. Zum Beispiel am Luftangriff auf eine Schule in Gaza-Stadt am Sonntag, in der sich zahlreiche vertriebene Zivilisten aufhielten. Beim Angriff wurden 36 Menschen getötet, über 55 verletzt. Die Bilder davon lassen auch Schweizer Jüdinnen und Juden am Vorgehen der israelischen Regierung zweifeln.
Der Chefredaktor der jüdischen Wochenzeitschrift Tachles, Yves Kugelmann, spricht Klartext. «Der legitime Verteidigungskrieg, der im November 2023 angefangen hat, hat sich in den letzten Wochen gewandelt in einen Krieg auch gegen die Zivilbevölkerung, der weit über das Ziel hinausschiesst, von der Befreiung von den Geiseln und von der Garantie der Sicherheit von Israel.»
In einem Kommentar schrieb der Journalist kürzlich: «Während zu viele jüdische Organisationen sich an den Konsequenzen des Gaza-Kriegs mit allen internationalen antisemitischen Reaktionen abarbeiten, ignorieren sie die verheerenden Menschenrechtsverletzungen in Gaza.»
Der legitime Verteidigungskrieg (...) hat sich in den letzten Wochen gewandelt in einen Krieg auch gegen die Zivilbevölkerung.
Meinungswandel zu spüren
Kugelmann ist mit seiner Meinung nicht allein. Auch der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG, Ralph Friedländer, bemerkt einen Meinungswandel in seiner Gemeinschaft: «Ich spüre das tatsächlich. Es hat mehr Leute, die nicht mehr recht verstehen, was die israelische Regierung macht und warum sie das macht, und die kritischer geworden sind. Die Solidarität mit Israel ist nach wie vor da, aber es gibt auch vermehrt kritische Stimmen.»
Es hat mehr Leute, die nicht mehr recht verstehen, was die israelische Regierung macht und warum sie das macht.
Nach dem Angriff der Hamas einte die Jüdinnen und Juden in der Schweiz ein gemeinsames Ziel: die Freilassung der entführten jüdischen Geiseln, koste es, was es wolle. Mit Aktionen wie einem leeren Schabbat-Tisch in Zürich drückten sie ihre Solidarität aus. Die Geiseln bleiben zwar weiterhin im Fokus, die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen geht aber auch an der jüdischen Bevölkerung nicht spurlos vorbei.
«Traditionellerweise ist die jüdische Gemeinschaft sehr engagiert für soziale humanitäre Fragen», sagt Kugelmann dazu. «Sagen wir mal, die klassische Mitte, wenngleich sie auch zum Teil weggebrochen ist, die setzt sich vermehrt wieder für die Anliegen ein.»
«Humanitäre Hilfe muss gewährleistet sein»
SIG-Präsident Ralph Friedländer übt denn auch vorsichtig Kritik an der israelischen Regierung. Diese müsse ihre humanitäre Verantwortung im Gazastreifen besser wahrnehmen. «Wir haben Verständnis für diese schwierige Situation», so Friedländer. «Die Hamas hat vielfach die Hilfslieferungen gekapert und für eigene Zwecke missbraucht und spielt mit der Not der Leute vor Ort. Aber trotzdem muss es so sein, dass die Hilfslieferungen, die humanitäre Hilfe gewährleistet ist. Immer.»
Auch in Israel hat der Widerstand gegen die Gazapolitik der Regierung Netanjahu in den letzten Wochen deutlich zugenommen. In der Schweiz wie in Israel: Immer mehr jüdische Menschen getrauen sich öffentlich, ihre Kritik zu äussern.