Es ist eine demokratische Grundsatzfrage: soll das Parlament, oder soll der Bundesrat die Richtung vorgeben bei der Bekämpfung des Coronavirus? Felix Uhlmann ist Staatsrechtler an der Universität Zürich und sagt: «Ich denke, dass der Bundesrat die schwächere Legitimation hat, solche weitreichenden Entscheide zu treffen im Vergleich zum Parlament. Deswegen schien es mir immer wichtig, dass das Parlament, soweit es möglich ist, bei diesen Fragen einbezogen wird.»
Aber in der Schweiz entscheidet der Bundesrat, das Parlament spielt praktisch keine Rolle. Obwohl es ganz grundsätzliche Fragen sind: «Diese fast unmögliche Abwägung der Inkaufnahme von möglicherweise mehr Toten gegenüber den massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens – das ist eine Entscheidung, bei der ich denke, dass nur das Parlament wirklich in der Lage ist, sie mit der nötigen Legitimation zu treffen», sagt Uhlmann.
Die Verfassung geht davon aus, dass wichtige Entscheide vom Parlament gefällt werden.
Felix Uhlmann erwartet nicht, dass das Parlament im Wochenrhythmus über neue Massnahmen entscheidet. Wenn sich die Situation zuspitzt, müsse der Bundesrat schnell handeln können. Aber die Grundsatzfrage, ob die Schweiz eine liberale oder restriktive Linie fahren soll und damit mehr oder weniger Tote in Kauf nimmt, dürfe nicht einfach dem Bundesrat überlassen werden: «Grundsätzlich geht die Verfassung natürlich davon aus, dass, wenn es zeitlich möglich ist, die wichtigen Entscheidungen vom Parlament selbst gefällt werden.»
Bundesrat und Verwaltung wenig zugänglich
Auch sein Kollege von der Uni Basel, Staatsrechtsprofessor Markus Schefer, kritisiert, dass sich das Parlament bei den erwähnten zentralen Fragen verabschiedet hat: «Entsprechend sind Bundesrat und Verwaltung letztlich auf sich selbst gestellt und das sind Organe die nicht offen, transparent und demokratisch zugänglich funktionieren.»
Die Entscheide laufen Gefahr, von weiten Teilen der Bevölkerung nicht getragen zu werden.
Schefer und Uhlmann sehen darin das grosse Problem. Während beim Parlament Differenzen transparent ausdiskutiert werden, weiss beim Bundesrat – ohne Indiskretionen – niemand, welche Argumente auf dem Tisch lagen und wie er diese gewichtet hat: «Das bedeutet, dass die Entscheide Gefahr laufen, dass sie von weiten Teilen der Bevölkerung nicht getragen werden.»
Mehr öffentliche Diskussion, mehr Legitimation
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die beiden Staatsrechtler werfen dem Bundesrat nicht vor, dass er seine Kompetenzen überschreitet; dieser handelt im Rahmen des Epidemiengesetzes. Es geht vielmehr um die Fragen, ob für die Legitimation und damit Akzeptanz der Entscheide zur Bekämpfung des Virus das Parlament nicht eine wichtigere Rolle spielen sollte; und wie das Parlament dies auch kurzfristig organisieren könnte:
«In einer Art und Weise, dass man innerhalb relativ kurzer Zeit nach einem bundesrätlichen Entscheid selber eine wohl informierte Meinungsbildung hätte durchführen können. Diese Mechanismen wollte man damals offenbar nicht ins Covid-Gesetz reinschreiben, deshalb haben wir sie heute nicht.»
Für die beiden Staatsrechtler ist also völlig klar, das Parlament muss eine wichtigere Rolle spielen; nur nahm dieses diese Verantwortung bis anhin nicht wahr.