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Leiturteil des Bundesgerichts Kein Schutz durch Immunität für ausbeutenden Diplomaten

Ein pakistanischer Diplomat soll seine Angestellte ausgebeutet haben. Das Bundesgericht ermöglicht ihr nun, zu klagen.

Hauspersonal ausgebeutet: Anfang 2021 wandten sich vier philippinische Hausangestellte an die Schweizer Mission beim UNO-Büro in Genf und beklagten, dass sie bei Diplomaten der pakistanischen Mission teilweise ohne Bezahlung in moderner Zwangsarbeit ausgebeutet würden.

Wer nicht kuschte, wurde entlassen: Ein pakistanischer Diplomat forderte daraufhin seine Angestellte auf, eine Erklärung zu unterzeichnen, wonach er seine vertraglichen Pflichten ihr gegenüber einhalte. Als sie sich weigerte, entliess er sie – per Whatsapp.

Drei Frauen an einer Pressekonferenz
Legende: An einer Medienkonferenz im Juni 2021 erhob die Hausangestellte gemeinsam mit Leidensgenossinnen und der Gewerkschaft SIT schwere Vorwürfe: Sechs philippinische Arbeitskräfte hätten teilweise über 20 Jahre lang unbezahlt für pakistanische Diplomaten in Genf gearbeitet. KEYSTONE/Martial Trezzini

Hausangestellte wehrte sich: Die Frau forderte daraufhin vor Gericht eine Entschädigung von rund 16'500 Franken wegen missbräuchlicher Kündigung. Der Diplomat erschien nicht an der Verhandlung, er berief sich dabei auf seine diplomatische Immunität.

Diplomatische Immunität: Gemäss Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen geniessen ausländische Diplomaten in der Schweiz Immunität: Sie können – mit einigen Ausnahmen – weder angezeigt noch verklagt werden. Deshalb scheiterten ausgebeutete Hausangestellte in früheren Fällen vor den Gerichten. Doch jetzt hat das Bundesgericht einen wegweisenden Entscheid gefällt.

Sinn und Zweck diplomatischer Immunität

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Die Immunität soll es den Diplomatinnen und Diplomaten ermöglichen, ihre Arbeit frei und unbeeinflusst auszuführen – geschützt vor willkürlichen Gerichtsverfahren. Das reibungslose Funktionieren der Beziehungen zwischen zwei Staaten gilt grundsätzlich als wichtiger als Gerechtigkeit in Einzelfällen. Im Extremfall drohen nämlich zwischen Staaten Spannungen oder gar Krieg.

Dies zu vermeiden, ist, laut Völkerrechtsexperte Oliver Diggelmann von der Universität Zürich, die Grundidee hinter der Regelung – und im Grundsatz selbst wichtiger als die Verfolgung eines Mordes. «In den vergangenen 30 Jahren sind die Immunitäten allerdings stärker unter Druck geraten», so Diggelmann. «Es gibt eine Tendenz, Ausnahmen grosszügiger anzunehmen.»

Sowohl in der Schweiz als auch in anderen Ländern beklagte man Immunitätsmissbrauch: Diplomaten, die systematisch Parkbussen ignorierten oder ihr Hauspersonal misshandelten. Die Tendenz, Ausnahmen grosszügiger anzunehmen, ist laut Diggelmann allerdings ebenfalls nicht unbestritten. Mit der Ausdehnung der Ausnahmen wachse auch das Risiko missbräuchlicher Behauptung einer Ausnahme.

Leitentscheid des Bundesgerichts: Der Diplomat könne sich nicht auf die Immunität gemäss Wiener Übereinkommen berufen. Die Immunität dürfe nicht dazu führen, dass Hausangestellte, die in moderner Zwangsarbeit ausgebeutet würden, keinen Rechtsschutz erhielten. Die Immunität solle nicht Einzelpersonen privilegieren, sondern die Funktionsfähigkeit diplomatischer Missionen sichern.

Das Urteil im Detail

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Eigentlich sieht das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen nur drei Ausnahmen zur Immunität von Diplomaten vor: bei Klagen im Zusammenhang mit Immobilienbesitz, Erbschaften oder «gewerblichen Tätigkeiten» neben dem Amt.

Das Bundesgericht legt nun Letztere sehr breit aus und zählt auch die Beschäftigung von Hauspersonal dazu – entgegen dem klaren Vertragswortlaut. Es leuchtet laut Bundesgericht aber nicht ein, warum Geschäftspartner besser geschützt sein sollten als Hausangestellte. Diese würden oft ausgebeutet – bis hin zu moderner Sklaverei.

Seit dem Abschluss des Wiener Übereinkommens habe das Völkergewohnheitsrecht anerkannt, dass Hausangestellte von Diplomaten Rechtsschutz bräuchten. Das Interesse der Hausangestellten an Schutz überwiege jenes des Diplomaten, nicht durch Klagen in seiner Arbeit behindert zu werden. Die Genfer Justiz habe daher dem Diplomaten zu Recht das Privileg der Immunität verweigert und die Klage der Hausangestellten zugelassen.

4A_170/2024

Ein Experte ordnet ein: «Das Urteil ist eine pragmatische Lösung eines bekannten und massiven Problems», sagt Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann von der Universität Zürich. Schon seit Längerem wisse man, dass manche Diplomaten Hausangestellte ausbeuteten, in Einzelfällen fast sklavereiähnlich. Diggelmann findet die grosszügige Auslegung des Gerichts vertretbar. «Da es aber eine Auslegung gegen einen an sich klaren Wortlaut ist, wäre der bessere Weg eine Änderung der Konvention.»

Bedeutung des Urteils: Laut der Genfer Gewerkschaft SIT, welche die ausgebeuteten philippinischen Angestellten beraten hat, stellt das Urteil einen historischen Wendepunkt für den Schutz von Hausangestellten und den Zugang zur Justiz in der Schweiz dar. «Diese Entscheidung hat starke praktische Auswirkungen, da Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Haushalt von Diplomaten nun direkt vor Schweizer Zivilgerichten klagen können, ohne auf ein unsicheres diplomatisches Verfahren angewiesen zu sein», schreibt Gewerkschaftssekretär Jean-Luc Ferrière. Bisher waren sie nämlich darauf angewiesen, dass der Entsendestaat auf Antrag der Schweiz die Immunität eines Diplomaten im Einzelfall aufhebt.

SRF 4 News, 17.10.2025, 12 Uhr; noes

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