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Meilenstein für Behinderte Im Kanton Zürich sollen Behinderte mehr Rechte erhalten

Selbst entscheiden, wie man wohnt oder arbeitet: Im Kanton Zürich soll dies endlich auch für Behinderte möglich sein.

Lange haben Menschen mit Behinderung und Behindertenorganisationen auf diesen Tag gewartet: Der Zürcher Regierungsrat hat ein Gesetz vorgestellt, das ihnen mehr Selbstbestimmung einräumen soll. Bis jetzt können Menschen mit einer Beeinträchtigung aus finanziellen Gründen oft nicht wählen, wo und in welcher Wohnform sie leben oder wie sie arbeiten wollen. Als einzige Alternative bleibt das Heim, auch in jungen Jahren. Für viele Betroffene ist deshalb heute ein Freudentag.

Was sich mit dem neuen «Selbstbestimmungsgesetz» ändert

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Bis jetzt wurden Menschen mit einer Behinderung nicht individuell unterstützt, wenn sie zum Beispiel trotz fortschreitender Beeinträchtigung selbständig leben wollten. Die Finanzierung lief ausschliesslich über Institutionen, ihnen blieb deshalb oft nur der Gang ins Heim. Das neue Gesetz soll den Betroffenen nun mehr Wahlfreiheit in den Bereichen Wohnen, Arbeiten und Tagesgestaltung ermöglichen. Menschen mit einer Behinderung sollen also zukünftig wählen können, ob sie lieber in einer eigenen Wohnung oder in einer Institution leben möchten. Sie erhalten nach einer individuellen Abklärung eine Leistungsgutschrift, einen sogenannten «Voucher». Diesen können sie selbstbestimmt einsetzen, zum Beispiel für eine Wohn-Assistenz. Der Kanton Zürich hat sich diese Änderung des Systems nicht selbst ausgedacht: Alle Kantone haben die Aufgabe, das Behindertengleichstellungsrecht und die UNO-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Über das neue Gesetz entscheidet noch der Zürcher Kantonsrat.

«Es ist ein enorm wichtiger Schritt», sagt Marianne Rybi, Leiterin der Behindertenkonferenz. Die Dachorganisation für alle Behinderten und deren Verbände im Kanton Zürich haben die Ausgestaltung des Gesetzes eng begleitet. Marianne Rybi ist mit dem Resultat denn auch sehr zufrieden. Vor allem die Verbesserung der Wohnsituation sei entscheidend: «Das neue Gesetz ermöglicht sowohl die Finanzierung von eigenständigem Wohnen, als auch das Wohnen in Institutionen und von allen Formen dazwischen.»

Heutige Aussicht: Ins Heim und Couverts kleben

Wie sehr das neue Gesetz die Betroffenen entlasten würde, bekräftigt auch Vize-Präsident Matyas Sagi-Kiss. Er lebt selbst mit einer Zerebralparese, einem Geburtsgebrechen, welches mit Bewegungsstörungen und Muskelsteife einhergeht. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen und lebt selbständig in einer 1.5 Zimmerwohnung. Würde es ihm plötzlich schlechter gehen, müsste er in ein Heim, auch wenn er erst 45 oder 50 wäre, «irgendwo wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen – und Couverts kleben.»

Seine bisherige Arbeitstätigkeit auf der Kantonsverwaltung müsste er aus logistischen Gründen wohl aufgeben, mit dem weitgehend selbstbestimmten Leben wäre es vorbei. «Im Heim müssen Sie sich in Strukturen fügen, die eine Erwerbstätigkeit sehr erschweren.»

Mit dem neuen Gesetz müsste ich nicht zwangsweise in ein Heim.
Autor: Matyas Sagi-Kiss Vizepräsident Behindertenkonferenz Kanton Zürich

Damit einher geht ein enormer Verlust von Autonomie, das eigene Leben zu gestalten, angefangen mit einer nicht selbst ausgesuchten WG bis zum geteilten Badezimmer und fixen Essenszeiten. «Die Leute vergessen, was das heisst», meint Matyas Sagi-Kiss dazu. Wer nicht unmittelbar betroffen sei, verdränge solche Realitäten. Das neue Gesetz würde ihn davor bewahren.

Beten, dass das Gesetz durchkommt

Mit diesen Aussichten müssen heute etwa 180'000 Menschen mit einer Behinderung im Kanton Zürich leben. Die grosse Mehrheit von Ihnen dürfte vom neuen Gesetz profitieren und zukünftig deutlich mehr Entscheidungsfreiheit geniessen.

Den Kanton kommt das neue System teurer zu stehen als das bisherige. Er rechnet mit Mehrausgaben von 15 bis 30 Millionen Franken. Das letzte Wort hat der Zürcher Kantonsrat. Sagt er ja und wird nicht noch das Referendum ergriffen, wird das neue Gesetz schrittweise umgesetzt. Matyas Sagi-Kiss und mit ihm viele andere Betroffene hoffen, dass das Gesetz, so wie es jetzt ist, durchkommt. «Ich bete wirklich nie», meint er. Jetzt aber schon.

Regionaljournal Zürich Schaffhausen, 08.04.2021, 12:03 Uhr ; 

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