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Messerattacke von Morges Die entscheidende Frage lässt der Aufsichtsbericht offen

Im Nachhinein ist man immer gescheiter. So einfach sollte man den Rückblick auf den mutmasslich ersten dschihadistischen Anschlag in der Schweiz nicht beiseiteschieben. Denn ein Mensch ist gestorben und der Vorwurf systematischer Mängel wurde laut.

Der Inspektionsbericht der Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft (AB-BA), von dem nun eine Zusammenfassung erschienen ist, enthält eine Reihe von «Empfehlungen» an die Bundesanwaltschaft (BA).

So sollte die BA ihre Gefährlichkeitsbeurteilung verbessern, schreibt die AB-BA. Interdisziplinäres Arbeiten sei angesagt. Das bedeute, mehr auf die Kantone zu hören, mit ihnen einen regelmässigeren Informationsaustausch zu pflegen, oder für Risikoeinschätzungen Spezialistinnen forensischer Psychiatrie beizuziehen. Und die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte im Bereich Terrorismus sollten eine Weiterbildung belegen, um «Grundkenntnisse in forensischer Psychiatrie» zu erwerben, so die AB-BA.

Den Behörden war die Motivation bekannt

Man reibt sich die Augen: Das gab es alles bislang nicht? Immerhin: Die Empfehlungen seien inzwischen umgesetzt worden oder auf dem Weg dazu, heisst es vonseiten der BA.

Die entscheidende Frage lässt der Aufsichtsbericht aber offen. Dafür ist eine Rückblende in den Sommer 2020 nötig: Der spätere Täter, ein schweizerisch-türkischer Doppelbürger, darf das Untersuchungsgefängnis damals verlassen. Dort war er seit über einem Jahr gesessen, weil er versucht hatte, in Prilly/VD eine Tankstelle in Brand zu setzen. Er tat dies nach eigenen Angaben, um im Namen der Terrororganisation IS einen Anschlag zu verüben. Die Behörden kannten also seine Motivation. Und: Bekannt war auch seine Vernetzung mit mehreren IS-Anhängern. Die AB-BA kam zum Schluss, die Freilassung sei «vertretbar» gewesen.

Jedoch: In Freiheit hätte der Beschuldigte eine Reihe von Ersatzmassnahmen einhalten müssen, darunter Meldung bei der Polizei, eine Gesprächstherapie, ein Ausgehverbot. Mehrere der Auflagen verletzte er aber. Wegen dieser Verstösse, so die AB-BA, wäre eine «Reaktion» erforderlich gewesen. Nur, und das lässt die Aufsichtsbehörde im öffentlich zugänglichen Teil ihres Berichts offen: welche Reaktion?

Im Nachgang zur Tat war ein Streit zwischen dem Kanton Waadt und der BA ausgebrochen über die Frage der Verantwortung. Waadt sagte, man habe die Verstösse des Mannes nach und nach gemeldet. Die BA entgegnete damals, ihr seien keine Verstösse gemeldet gewesen, die eine erneute Inhaftierung gerechtfertigt hätten.

Keine deutliche Antwort

Was stimmt? Waren der BA aus rechtlichen Gründen die Hände gebunden? Oder hätte der Kanton Waadt selbst handeln können? Liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? 

Die Zusammenfassung des AB-BA-Berichts liefert dazu keine eindeutige Antwort. Das ist zu bedauern. Es scheint, als wolle die Aufsicht im heikelsten Punkt keinen Klartext sprechen. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass die Behörden weiter zusammenarbeiten müssen und man wohl Gras über die Sache wachsen lassen möchte. Mehrere damalige Verantwortliche sind zudem nicht mehr im Amt.

Das mag einem gutschweizerischen Kompromiss entsprechen: «Optimierungen» anstreben, aber kein weiteres Geschirr zerschlagen. Der Preis dafür: Entscheidende Fragen, deren Beantwortung das Vertrauen in die Schweizer Sicherheitsbehörden beeinflussen, bleiben unbeantwortet.

Daniel Glaus

Fachredaktor Extremismus

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Daniel Glaus ist seit 2015 Inlandredaktor beim Schweizer Fernsehen, zu seinen Dossiers zählen Extremismus und Terrorismus. Zuvor arbeitete der Investigativjournalist beim Recherchedesk von «SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche».

SRF 4 News, 07.03.2023, 15:00 Uhr

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