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Missbrauch im Netz Wenn Erwachsene sich im Internet an Kinder heranmachen

Nach einem Kontakt im Internet gewinnt der Täter Rebeccas Vertrauen und lockt sie mit Geld, bevor er sie missbraucht.

«Cybergrooming»: Der Begriff dürfte nicht allen geläufig sein, doch das Problem ist seit Längerem bekannt. Erwachsene machen sich im Internet an Kinder und Jugendliche heran, um sie dann sexuell zu missbrauchen. Auch im Fall von Rebecca Lakomy schmeichelte ihr der Täter, gewann ihr Vertrauen und lockte sie mit Geld, bevor er sie missbrauchte.  

Es beginnt mit Aufmerksamkeit und Zuwendung

Das sei ein typisches Vorgehen bei Cybergrooming, erklärt Regula Schwager, Psychotherapeutin und Co-Leiterin der Opferberatungsstelle «Castagna»: «Kinder und Jugendliche sind sehr ansprechbar   auf Menschen, die ihnen Aufmerksamkeit und Zuwendung geben, die Tag und Nacht für sie verfügbar sind.» Genau dies nutzen die Täter, sogenannte «Groomer», aus. «Wenn diese Bindung einmal steht, haben die Kinder eigentlich keine Chance mehr», so Schwager.

Eine Erfahrung, die auch Rebecca Lakomy gemacht hat: «Virtuell ist alles noch weit weg», sagt sie. «Als er persönlich vor mir stand, war ich bereits zu weit drin». Rebecca traf sich mit dem Täter, im Glauben, dass er professionelle Fotos von ihr machen wolle. Nachdem sie zu ihm ins Auto gestiegen war, fuhr er mit ihr an einen entlegenen Ort und verging sich an ihr: «Zuerst zwang er mich zu einem Kuss, dann berührte er mich an meiner Vulva.»

Als Lakomy daraufhin zu weinen begann und ihre Mutter sie auf dem Handy anrief, liess der Täter von ihr ab und fuhr sie nach Hause. Doch der Schaden war angerichtet. Lakomy leidet bis heute an einer dissoziativen Störung. Das bedeutet, dass ihr Körper bei gewissen Reizen in eine Art Ohnmachtszustand fällt.

Cybergrooming ist eng mit einem anderen Delikt verbunden, der Kinderpornografie. Die Täter überreden Kinder und Jugendliche, ihnen Nacktfotos von sich zu schicken. Ein grosser Teil des sexuell missbräuchlichen Materials, das im Netz kursiert, wird von Kindern selbst produziert und hat seinen Ursprung in solchen Kontakten. 

Starke Zunahme der Fälle

Cybergrooming hat in den letzten Jahren stark zugenommen – auch in der Schweiz. Eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hat festgestellt, dass im Jahr 2020 rund 44 Prozent der Jugendlichen online unerwünscht sexuell angesprochen worden sind. Im Jahr 2014 waren es noch 19 Prozent.

In der Sendung «Club» zum Thema Kindsmissbrauch im Netz waren rund 50 Schülerinnen und Schüler anwesend. Fast alle gaben an, in Chat-Foren bereits unerwünscht von Fremden mit sexuellen Absichten konfrontiert worden zu sein.  

Im Vorfeld der Sendung hatten die Schülerinnen und Schüler das Thema im Unterricht diskutiert und unter anderem den tschechischen Dokumentarfilm «Gefangen im Netz» gesehen. Darin geben sich volljährige Schauspielerinnen auf sozialen Medien als Minderjährige aus und werden innert kürzester Zeit von hunderten Männern kontaktiert und sexuell belästigt. 

«Gefangen im Netz»

Selbstversuch mit schockierendem Resultat

Eine Erfahrung, die auch die 14-jährige Elisa gemacht hat. Sie wurde online von einem Fremden kontaktiert: «Er signalisierte zunächst Freundschaft, schickte mir Herzchen. Doch schon nach wenigen Minuten fragte er mich, ob ich schon einmal das Geschlechtsteil meines Bruders gesehen habe oder welche Farbe meine Unterwäsche habe».

Ein Filmset mit Monitoren, im Hintergrund die Kulissen der Kinderzimmer
Legende: Im Dok-Film «Gefangen im Netz» geben sich drei volljährige Schauspielerinnen in Chat-Foren als Minderjährige aus. In einem Studio wurden drei «Kinderzimmer» eingerichtet und die Gespräche in den Internetforen aufgezeichnet. ZVG

Elisas Mitschülerinnen haben Ähnliches erfahren. Sie starteten mit ihrer Klasse einen Selbstversuch im Internet – und waren vom Ausmass des Problems überrascht: «Uns hatten schon nach zehn Minuten über 100 Männer angeschrieben», berichtet Leila. Und Eleanor ergänzte: «Sie waren sehr direkt, fragten: Bist du spitz? Was trägst du? Schick mir Bilder und wo wohnst du?».

Online-Spiele als Kontaktpunkt

Doch potenzielle Täter treiben sich nicht nur auf den gängigen Social-Media-Plattformen herum, wie die Schüler Samuel, Jonas und Leandro berichteten. Auch in Chat-Foren von Onlinespielen droht diese Gefahr: «Meist sind es Games wie Minecraft, Fortnite oder Valorant», sagt der 16-jährige Samuel.

Eine Beobachtung, die Cédric Meyrat, Chef der Spezialfahndung der Kriminalpolizei Bern, bestätigen kann: «Grundsätzlich lauert die Gefahr überall im Netz.»

Dass Chat-Partner schnell explizit werden, wie die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler zeigen, komme nur etwa in der Hälfte der Fälle vor, sagt Psychotherapeutin Regula Schwager. «Wir erleben häufig, dass Täter wochen-, manchmal monatelang eine Beziehung aufbauen. Sodass man, wenn sexuelle Anliegen kommen, keine Chance mehr hat,   Nein zu sagen».

Eine Erfahrung, die Polizist Cédric Meyrat teilt: «Man kann sehen, dass die Täterschaft sich sehr viel Zeit lässt, um das Vertrauen des Kindes zu gewinnen.» Sein Team fahndet aktiv in Netz nach potenziellen Tätern.

Für diese Männer sei das Internet ein verlockender Raum, sagt Psychotherapeutin Monika Egli-Alge im «Club». Ursprünglich therapierte sie Opfer von sexueller Gewalt. Seit mehr als zehn Jahren widmet sie sich der Therapie von potenziell pädophilen Tätern.

«Es ist nicht nur, als hätte man eine Glace im Tiefkühler, sondern eher als hätte man eine Glacemaschine zuhause, wodurch man jederzeit Material zur Verfügung hat.» So würden das die Männer beschreiben, mit denen sie arbeite. Dabei sei wichtig zu erkennen, dass sich nicht alle Täter sexuell zu Kindern hingezogen fühlen würden: «Sondern sie suchen nach Macht, nach Dominanz, nach Opfern, die sie manipulieren können, die für sie verfügbar sind», erklärt Egli-Alge. 

Frage nach dem Kinderschutz

Wie können Jugendliche und Kinder darauf vorbereitet werden, was sie im Netz erwartet, damit ihnen nicht widerfährt, was Rebecca Lakomy erleben musste? Die Fachleute im «Club» waren sich einig: «Ich finde das Wichtigste, dass Jugendliche und Kinder über die Gefahren informiert werden, dass man ihnen erklärt, was passiert und wie das läuft», sagt Regula Schwager.

Für Polizeifahnder Meyrat spielt auch die Medienkompetenz eine wichtige Rolle: «Es geht darum, den Schülern aufzuzeigen, dass man beim Versenden und Erstellen der eigenen Bilder vorsichtig sein muss.»

Auch Regula Bernhard-Hug, Geschäftsführerin von Kinderschutz Schweiz fordert eine bessere Sensibilisierung für das Thema: «Schon ein zehnjähriger Gamer muss wissen, dass er sich nicht mit seinem eigenen Namen anmelden und niemanden gleich auf dem Schulhausplatz treffen sollte.» 

Weitere Verbesserungen nötig

Und was sagt Rebecca Lakomy, die bis heute unter den Folgen von Cybergrooming leidet? «Man darf die Augen davor nicht verschliessen.» Es habe sich aber bereits viel getan in den Jahren, die seit ihrem Missbrauch vergangen seien: «Ich finde es sehr beeindruckend und schön, wie offen dieses Thema   in Schulen und Familien thematisiert wird. Was mir passiert ist, ist noch nicht so lange her. Aber damals war es definitiv noch nicht auf dem Niveau, das ich hier wahrnehme.»

Club, 10.05.2022, 22:35 Uhr

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