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Nach Flucht aus der Ukraine Kinder aus dem Kriegsgebiet werden in der Schweiz eingeschult

Bilder des Kriegs und die Flucht aus der Heimat sind traumatische Erfahrungen für Kinder. Für die Verarbeitung ist Normalität wichtig – die bietet die Schule.

Der 7-jährige Deniel und sein zwei Jahre älterer Bruder David sitzen mit ihren Eltern am Frühstückstisch und schmieren Konfitüre aufs Gipfeli. Es ist kurz nach sieben Uhr, in einer Stunde fängt die Schule an. Alles scheint normal – und doch ist alles neu und ungewohnt für die Familie aus Kiew.

Am vergangenen Samstag sind sie in einer kleinen Gemeinde im Kanton Thurgau bei Bekannten angekommen, nach einer Flucht aus der Heimat, die sich über zehn Tage hinzog. Vater Serhii Denysenko erzählt: «Wir haben ein normales Leben geführt. Es war ein schöner Tag. Dann haben wir die Flugzeuge gehört».

Schulkinder – begleitet von Erwachsenen – auf dem Schulweg.
Legende: Alles ist bereit für den ersten Schultag in der Fremde. SRF / Brigitte Büchel

Zuerst hätten sie es nicht glauben können, sagt seine Frau Olha Denysenko. «Wir dachten, das geht nur einen Tag so. Wir haben entschieden, zu Hause zu bleiben. Ich habe noch die Wäsche gemacht, habe gekocht. Ich habe sogar Brötchen gebacken.» Sie schüttelt den Kopf und lächelt leicht. Das alles scheint schon weit weg.

Am Abend des 24. Februar ist die Familie aufgebrochen, in die West-Ukraine. Unterwegs sehen sie Panzer und die Spuren der Bombardierungen. Damit die zwei Buben keine Angst haben, sprechen die Eltern Olha und Serhii von einer spannenden Reise, verpacken das Gesehene als Abenteuer statt als Flucht.

Nur zwei Wochen später soll es für die zwei Jungs möglichst schnell wieder in die Normalität gehen. Der Rucksack für den ersten Schultag wird gepackt. David freut sich aufs Malen. Und er hofft, dass er keine Aufgaben bekommt, weil er die Sprache nicht spricht. Der jüngere Deniel ist noch etwas vorsichtiger: «Ich werde mit niemandem sprechen können», befürchtet er. Als er aber erfährt, dass es in der Schweiz auch Fussball gibt, ist das Lächeln zurück auf seinem Gesicht.

Was jetzt in der Ukraine-Krise zusätzlich dazu kommt, ist, dass vor allem Mütter mit Kindern flüchten, während Väter und die grossen Brüder daheim bleiben müssen.
Autor: Dagmar Rösler Zentralpräsidentin Lehrerinnen- und Lehrerverband Schweiz

Es ist inzwischen kurz vor acht Uhr, die Familie macht sich gemeinsam auf den kurzen Schulweg durchs Dorf. Dass ihre Söhne noch in der ersten Woche in der Schweiz in eine Klasse kommen, damit hätten sie nicht gerechnet.

Dafür, dass das möglich ist, legen sich nicht nur die Bekannten ins Zeug, die die Familie Denysenko aufgenommen haben, sondern auch die Schulleiterin und die Lehrerinnen.

Ein Schulkind verlässt die Schule.
Legende: Deniel will auf einmal nicht zur Schule. Erst nach gutem Zureden der Mutter und der Lehrerin geht er dennoch zurück. SRF / Brigitte Büchel

Viele Lehrpersonen haben bereits Erfahrung darin, geflüchtete Kinder zu unterrichten – aus früheren Krisen. «Was jetzt in der Ukraine-Krise zusätzlich dazu kommt, ist, dass vor allem Mütter mit Kindern flüchten während Väter und die grossen Brüder daheim bleiben müssen», sagt Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes Schweiz.

Normalität in einer Zeit voller Ungewissheit

Diese Ängste und Sorgen kennt auch Nina Hössli, von «Save the Children», die mit traumatisierten Geflüchteten arbeitet. Viele Kinder aus Flüchtlingsfamilien machen sich grosse Sorgen um Verwandte und Freunde, die zurückgeblieben sind. «Da ist es wichtig, dass wir als Erwachsene sagen, das ist nicht deine Schuld. Das ist nicht deine Verantwortung. Den Krieg beenden müssen Erwachsene, das müssen nicht die Kinder.»

Kinder sollen möglichst rasch in einen geregelten Tagesablauf kommen und Gleichaltrige kennenlernen. Dennoch ist der erste Schritt nicht ganz leicht. Im Thurgauer Dorf steht der 7-jährige Deniel um 08:15 Uhr im Eingang zum Kindergarten – und macht auf dem Absatz kehrt. Erst nach gutem Zureden seiner Eltern und der Kindergärtnerin fasst er den Mut, hineinzugehen. Die Eltern sind erleichtert, dass ihre Söhne schon so bald in die Schule können. Ein bisschen Normalität in einer Zeit voller Ungewissheit.

Tagesschau vom 10.03.2022, 13 Uhr

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