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Neuanfang in Blatten 100 Tage nach dem Bergsturz: «Unsere Kinder schauen nicht zurück»

Familie Bellwald-Hubert hat beim Bergsturz ihr Zuhause verloren. Noch immer lebt sie von Tag zu Tag. Eine Zeitreise.

Neun Tage vor der Katastrophe packen Esther Bellwald und Laurent Hubert das Nötigste zusammen und ziehen mit ihren beiden Söhnen Noé und Luc zu Bekannten ins Nachbarsdorf Wiler – notgedrungen. Weil der Fels hoch ob Blatten bröckelt, lassen die Behörden das Dorf vorsichtshalber räumen.

Ein Mann und eine Frau lehnen lachend aneinander.
Legende: Ein Bild aus der Zeit vor dem Bergsturz: Noch ahnen Esther Bellwald und Laurent Hubert nicht, dass ihr Leben bald ein anderes sein wird. ZVG

«Ich bin relativ ruhig, es kommt, wie es kommt», sagt Esther Bellwald damals gegenüber SRF. Nur: Was da kommt – das ahnt sie nicht.

Am 28. Mai 2025 dann die Gewissheit: das Unvorstellbare kommt. Massen an Stein, Eis, Schlamm und Wasser begraben das Dorf Blatten und den Weiler Ried unter sich.

Der Berg- und Gletscherabbruch in Blatten im Lötschental

Ein Mann stirbt. 300 Menschen verlieren ihr Zuhause, ihr Hab und Gut, ihre Heimat. Zu ihnen gehört auch Familie Bellwald-Hubert.

Der Schock

Fünf Tage nach dem Bergsturz sitzen Esther Bellwald und Laurent Hubert am Stubentisch in Wiler und können noch immer nicht fassen, was geschehen ist: «Wir haben unser Zuhause verloren», sagt Esther Bellwald, «aber was das genau heisst, realisieren wir noch nicht».

Ein Mann, eine Frau und ein Kind sitzen am Tisch.
Legende: Esther Bellwald und Laurent Hubert sprechen mit SRF-Wallis-Korrespondentin Anna-Lisa Achtermann über ihren Verlust (mit im Bild: Sohn Noé). SRF

Klar hingegen ist: Der Gletscher hat ihnen nicht nur das Zuhause geraubt, sondern auch ihre berufliche Existenz. In Blatten, im Weiler Ried, haben Esther Bellwald und Laurent Hubert das älteste Hotel des Lötschentals geführt: das 150-jährige «Nest- und Bietschhorn».

Ein Hang mit Chalets, im Vordergrund das Hotel «Nest- und Bietschhorn»
Legende: Heute erinnern nur noch Bilder an das 150-jährige Hotel «Nest- und Bietschhorn» in Blatten VS. Flickr/Die Lötschentaler

Esther Bellwald ist dort aufgewachsen und hat den Betrieb in zweiter Generation übernommen. Ihr Mann verköstigte als Sternekoch die Gäste.

Wir haben keine Ahnung, wo unser Haus genau stand.
Autor: Esther Bellwald Hotelière

Doch jetzt: Alles begraben unter einem 100 Meter hohen Schuttkegel. «Wir haben keine Ahnung, wo unser Haus genau stand», sagt Esther Bellwald – es ist der Moment, in dem ihre Stimme brüchig wird.

Bilder von ihrem einstigen Zuhause können sich Esther Bellwald und Laurent Hubert so kurz nach dem Ereignis nicht anschauen – zu aufwühlend.

Und auch an Alltag ist noch nicht zu denken – auch wenn dieser beharrlich anklopft. Zum Beispiel, weil zu wenig Kleider da sind. Die Familie hat bei der Evakuierung nur das Nötigste eingepackt. «Ich habe keine Nerven, in ein Geschäft zu gehen, mir über Grösse und Farben Gedanken zu machen», sagt Esther Bellwald. Gleichzeitig habe sie gemerkt, wie wenig sie zum Leben brauche.

Wie sie da spricht, spürt man eine leise Zuversicht. Und dies noch mehr, als sie erzählt, wie eine Freundin zu ihr sagte: «Wenn jemand das stemmen kann, dann die Blattnerinnen und Blattner.»

Der Aufbruch

Die Tage und Wochen nach dem Bergsturz zeigen: An diesem Satz ist etwas dran. Die Gemeinde Blatten setzt alles daran, um möglichst rasch wieder neu anzufangen. An einer Gemeindeversammlung Mitte Juni wird der vorläufige Fahrplan präsentiert – in drei bis fünf Jahren soll das neue Dorf bewohnbar sein.

Doch: Es geht bei der Zukunftsplanung um weit mehr als den Wiederaufbau. Etwa um die Frage, wie das Dorf die Bevölkerung im Lötschental halten kann. Was es tun kann, damit die «heimatlosen» Menschen nicht abwandern, bis ihr Dorf wieder aufgebaut ist. Oder: Wie sich der Tourismus im Lötschental wieder ankurbeln lässt.

Dann, 100 Tage nach dem verheerenden Bergsturz, informieren die Walliser Behörden über ihre Zukunftsvision von Blatten.

Wiederaufbau Blatten: Die wichtigsten Punkte

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Der Aktionsplan der Walliser Behörden beinhaltet zahlreiche Massnahmen:

  • Der Wiederaufbau soll bis 2029 erfolgen. Erste Bewohnerinnen und Bewohner können jedoch bereits 2026 in jene Häuser einziehen, die nicht durch den Bergsturz zerstört wurden.
  • Mit dem Einsatz von Notrecht will die Walliser Regierung die Bauarbeiten beschleunigen.
  • Wie viel der Wiederaufbau des Tales kostet, ist noch unklar. Allein der Kanton Wallis rechnet mit Ausgaben von 100 Millionen Franken, die geschätzten Kosten für Versicherungen belaufen sich auf 320 Millionen Franken.
  • Infrastruktur: Die Bauarbeiten laufen bereits auf Hochtouren. Eine Notstrasse von Wiler nach Blatten und Fafleralp sei weit fortgeschritten, ebenso Energie und Telekommunikation.

Allerdings: Wo genau Blatten wieder aufgebaut wird, ist noch nicht klar. Am Nesthorn gibt es immer noch Bewegungen am Berg – und die Naturgefahren bestimmen denn auch den Zeitplan des Wiederaufbaus. 

Die Chance

Und Familie Bellwald-Hubert? Drei Monate nach dem Bergsturz lebt sie in ihrem neuen Zuhause: In einer Ferienwohnung in Wiler neben Blatten – mit Aussicht aufs Bietschhorn. «Wir können uns vorstellen, länger hier zu bleiben», sagt Laurent Hubert. Die beiden Buben, der elfjährige Noé und der neunjährige Luc, hätten sich rasch eingelebt.

Nach dem Ereignis war mir sofort klar: das ist unsere Chance – so lange Ferien werden wir nicht mehr haben.
Autor: Esther Bellwald Hotelière

Wobei: Allzu viel Zeit hat die Familie noch nicht in ihrer Wohnung verbracht. Mit einem Camper war sie den Sommer über im Norden, Schweden, Finnland, Dänemark. Früher hatten die vier wegen des laufenden Hotelbetriebs gerade mal eine Woche gemeinsame Ferien. «Nach dem Ereignis war mir sofort klar: das ist unsere Chance – so lange Ferien werden wir nicht mehr haben, wenn wir wieder im Tourismus arbeiten», sagt Esther Bellwald.

Zwei Berge mit Tannenwald, dazwischen eine Flussrinne.
Legende: Von ihrem Balkon aus sieht Familie Bellwald-Hubert auf das Bietschhorn: «Wir schauen ohne Groll auf die Berge.» SRF

Doch so sehr die Ferien Erholung brachten, so sehr schmerzte die Rückkehr. Denn es war kein Zurück ins vertraute Heim. «Wir sind erst kurz vor der Abreise gezügelt und hatten uns noch nicht richtig eingenistet», sagt Laurent Hubert. Und Esther Bellwald erinnert sich, wie sie nach den Ferien als Erstes zum Berg hochschaute: «Es war, als würde alles wieder runterkommen – und ich begann zu weinen.» Ihr Bub habe sie gefragt, was los sei. Und Esther Bellwald realisierte: «Kinder nehmen das Ganze lockerer als Erwachsene, sie schauen nicht zurück, sie leben im Jetzt.»

Die Zuversicht

Dass Familie Bellwald-Hubert im Lötschental geblieben ist, hat vor allem mit den Kindern zu tun. «Jetzt, wo unser Zuhause weg ist, wollten wir sie nicht auch noch aus der Schule nehmen», sagt Esther Bellwald. Ihr Mann fügt an: «Wenn wir keine Kinder hätten, würden wir uns wohl irgendwo anders in den Bergen ein cooles Projekt suchen.»

Ein Mann zeigt mit der Hand etwas, eine Frau schaut ihm zu.
Legende: Heute leben Laurent Hubert und Esther Bellwald mit ihren Kindern in einer Ferienwohnung am Waldrand von Wiler. SRF

Doch auch wenn die Familie im gewohnten Umfeld bleibt: Die Veränderung bleibt für die vier seit dem Bergsturz eine Konstante. Auch als Familie müssen sie sich neu erfinden. «Bisher war unser Zuhause immer auch unser Arbeitsplatz, die Kinderbetreuung ging mit der Arbeit zusammen – jetzt haben wir eine neue Haushaltssituation.»

Und doch: Immer wieder schlagen Esther Bellwald und Laurent Hubert auch Pflöcke ein. So planen sie etwa mit anderen Hoteliers des verschütteten Dorfes ein temporäres Hotel auf der Lauchernalp. 19 Zimmer soll es geben, auf ein eigenes Restaurant wird verzichtet. Der Kanton hat eine Million Franken dafür gesprochen. Die Eröffnung ist auf Dezember 2025 – pünktlich zum Start der Wintersaison – geplant.

Wir bleiben im Lötschental, darum engagieren wir uns jetzt erstmal hier.
Autor: Laurent Hubert Sternekoch

Angebote, ein anderes Hotel ausserhalb des Lötschentals zu übernehmen, haben Esther Bellwald und Laurent Hubert ausgeschlagen. «Wir bleiben im Lötschental, darum engagieren wir uns jetzt erstmal hier», sagen sie – im Wissen darum, dass der Weg, der vor ihnen liegt, kein einfacher wird.

Aber wie hat Esther Bellwald kurz vor der Katastrophe gesagt: «Es kommt, wie es kommt.»

10vor10, 3.9.2025, 21:50 Uhr;liea

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