Neun Tage vor der Katastrophe packen Esther Bellwald und Laurent Hubert das Nötigste zusammen und ziehen mit ihren beiden Söhnen Noé und Luc zu Bekannten ins Nachbarsdorf Wiler – notgedrungen. Weil der Fels hoch ob Blatten bröckelt, lassen die Behörden das Dorf vorsichtshalber räumen.
«Ich bin relativ ruhig, es kommt, wie es kommt», sagt Esther Bellwald damals gegenüber SRF. Nur: Was da kommt – das ahnt sie nicht.
Am 28. Mai 2025 dann die Gewissheit: das Unvorstellbare kommt. Massen an Stein, Eis, Schlamm und Wasser begraben das Dorf Blatten und den Weiler Ried unter sich.
Der Berg- und Gletscherabbruch in Blatten im Lötschental
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Bild 1 von 23. Die Lonza findet den Weg durch den Schuttkegel. Bildquelle: SRF/Detlev Munz.
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Bild 2 von 23. In Blatten und Ried werden Schäden in Höhe von mehreren hundert Millionen Franken erwartet, schätzt der Schweizerische Versicherungsverband SVV . Bildquelle: SRF .
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Bild 3 von 23. Aktuelle Drohnenbilder zeigen: Das Wasser der Lonza bahnt sich einen Weg durch die 2.5 Kilometer langen Schuttmassen und fliesst ab. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 23. Der See in Blatten wird kleiner. Der Regionale Führungsstab geht derzeit nicht davon aus, dass das Wasser über den Schuttkegel schwappen wird. Bildquelle: SRF .
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Bild 5 von 23. Zuvor ist der Pegel der Lonza gestiegen und der neue See drohte überzulaufen. Bildquelle: Reuters/Maxar Technologies.
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Bild 6 von 23. Geröll-, Fels- und Eismassen auf einer Satellitenaufnahme. Bildquelle: Reuters/Maxar Technologies.
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Bild 7 von 23. Das Unbehagen bleibt: Auch am Donnerstag sind vom gegenüberliegenden Hang aus weiterhin Abbrüche zu hören und zu sehen. Bildquelle: SRF.
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Bild 8 von 23. Es sei wichtig, der Bevölkerung eine langfristige Perspektive zu bieten, so der Walliser Staatsrat Christophe Darbellay vor den Medien. «Es ist keine Option, das Tal zu verlassen.». Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 23. Der grosse See hat sich aus dem hinter dem Absturzmaterial aufgestauten Wasser der Lonza gebildet und die Häuser inzwischen überflutet. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 10 von 23. Erst der Felssturz, dann die Überflutung: Auch von Häusern in Blatten, die am Mittwoch nach dem Gletscherabbruch noch standen, sind mittlerweile höchstens noch die Dächer sichtbar. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 11 von 23. Die Luftaufnahmen zeigen am Donnerstag das ganze Ausmass der Zerstörung: Der allergrösste Teil des Dorfes Blatten liegt begraben unter Geröll und Schlamm oder ist überflutet. Bildquelle: Keystone/Jean-Christophe Bott.
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Bild 12 von 23. Das Zuhause einer Familie im Lötschental. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 13 von 23. Wo vorher ein Dorf war, zeigen sich nun überall Bilder der Verwüstung. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 14 von 23. Der Blick vom Berg ins Tal hinab – eine Schneise, die einer klaffenden Wunde gleicht. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 15 von 23. Das Lötschental gilt als Wanderparadies und zieht auch im Winter viele Touristinnen und Touristen an. Nun wurde es von einer Katastrophe ereilt, die ein ganzes Dorf ausgelöscht hat. Bildquelle: Keystone / Jean-Christophe Bott.
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Bild 16 von 23. Das Wasser des Dorfbachs Gisentella und der Lonza staute sich bereits am Mittwochabend östlich des Absturzbereiches in Blatten. Bildquelle: Pomonoa-Medien, Bildschirmfoto Video.
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Bild 17 von 23. Und so kam es zur Katastrophe: Das seit Tagen auf den Birchgletscher stürzende Felsmaterial hatte die Eismassen nach unten geschoben. Am Mittwochnachmittag brach das aufgetürmte Material schliesslich ins Tal ab. Bildquelle: SRF.
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Bild 18 von 23. Nach dem Abbruch stieg eine Staubwolke aus dem Talgrund und wälzte sich bis über die Lauchernalp (Fotostandort) ins Lötschental. Bildquelle: SRF.
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Bild 19 von 23. Die Staubmassen füllten das hintere Lötschental über der Gemeinde Blatten auf. Hier zeigt sich der Blick nach Osten von Wiler in Richtung Langgletscher. Bildquelle: SRF.
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Bild 20 von 23. Nachdem sich der Staub gelichtet hatte, türmte sich meterhoch Absturzmaterial aus Schutt, Fels, Bäumen und Gletschereis westlich des Dorfes Blatten auf. Im Bild der Blick von Wiler in Richtung Südost. Bildquelle: SRF .
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Bild 21 von 23. So präsentierten sich nach dem Abbruch am Mittwoch die Schuttmassen am südwestlichen Dorfrand mit der Faflerstrasse und der Lonza in der Bildmitte. Bildquelle: SRF.
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Bild 22 von 23. Mehrere Millionen Kubikmeter Gestein: Die Menge an Geröll, die ins Tal stürzte, ist kaum vorstellbar. Mit dem Abbruchmaterial könnten 1200 Olympia-Schwimmbecken gefüllt werden. Bildquelle: SRF.
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Bild 23 von 23. Betroffenheit und Mitgefühl: Die Bundesräte Albert Rösti (rechts) und Martin Pfister während der Medienkonferenz am Mittwoch. Die Schweiz und das Wallis stünden hinter den Einwohnerinnen und Einwohnern Blattens. Bildquelle: Keystone/Jean-Christophe Bott.
Ein Mann stirbt. 300 Menschen verlieren ihr Zuhause, ihr Hab und Gut, ihre Heimat. Zu ihnen gehört auch Familie Bellwald-Hubert.
Der Schock
Fünf Tage nach dem Bergsturz sitzen Esther Bellwald und Laurent Hubert am Stubentisch in Wiler und können noch immer nicht fassen, was geschehen ist: «Wir haben unser Zuhause verloren», sagt Esther Bellwald, «aber was das genau heisst, realisieren wir noch nicht».
Klar hingegen ist: Der Gletscher hat ihnen nicht nur das Zuhause geraubt, sondern auch ihre berufliche Existenz. In Blatten, im Weiler Ried, haben Esther Bellwald und Laurent Hubert das älteste Hotel des Lötschentals geführt: das 150-jährige «Nest- und Bietschhorn».
Esther Bellwald ist dort aufgewachsen und hat den Betrieb in zweiter Generation übernommen. Ihr Mann verköstigte als Sternekoch die Gäste.
Wir haben keine Ahnung, wo unser Haus genau stand.
Doch jetzt: Alles begraben unter einem 100 Meter hohen Schuttkegel. «Wir haben keine Ahnung, wo unser Haus genau stand», sagt Esther Bellwald – es ist der Moment, in dem ihre Stimme brüchig wird.
Bilder von ihrem einstigen Zuhause können sich Esther Bellwald und Laurent Hubert so kurz nach dem Ereignis nicht anschauen – zu aufwühlend.
Und auch an Alltag ist noch nicht zu denken – auch wenn dieser beharrlich anklopft. Zum Beispiel, weil zu wenig Kleider da sind. Die Familie hat bei der Evakuierung nur das Nötigste eingepackt. «Ich habe keine Nerven, in ein Geschäft zu gehen, mir über Grösse und Farben Gedanken zu machen», sagt Esther Bellwald. Gleichzeitig habe sie gemerkt, wie wenig sie zum Leben brauche.
Wie sie da spricht, spürt man eine leise Zuversicht. Und dies noch mehr, als sie erzählt, wie eine Freundin zu ihr sagte: «Wenn jemand das stemmen kann, dann die Blattnerinnen und Blattner.»
Der Aufbruch
Die Tage und Wochen nach dem Bergsturz zeigen: An diesem Satz ist etwas dran. Die Gemeinde Blatten setzt alles daran, um möglichst rasch wieder neu anzufangen. An einer Gemeindeversammlung Mitte Juni wird der vorläufige Fahrplan präsentiert – in drei bis fünf Jahren soll das neue Dorf bewohnbar sein.
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Bild 1 von 5. Die Armeeangehörigen sammeln Trümmer zusammen auf dem See, der sich in Blatten gebildet hat. Bildquelle: KEYSTONE/Jean-Christophe Bott.
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Bild 2 von 5. Bagger am Ufer heben die Trümmer aus dem Wasser. Bildquelle: KEYSTONE/Jean-Christophe Bott.
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Bild 3 von 5. Auf dem See treibt viel Holz. Es stammt etwa von Häusern und auch von Bäumen, die der Bergsturz umgefegt hat. Bildquelle: KEYSTONE/Jean-Christophe Bott.
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Bild 4 von 5. Die Soldaten bewegen sich mit ihren Booten zwischen Häuser und Bäumen hindurch. Bildquelle: KEYSTONE/Jean-Christophe Bott.
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Bild 5 von 5. Am Ablauf des Sees gibt es Ölsperren, damit Verunreinigungen nicht in grossen Mengen unkontrolliert abfliessen. Bildquelle: KEYSTONE/Jean-Christophe Bott.
Doch: Es geht bei der Zukunftsplanung um weit mehr als den Wiederaufbau. Etwa um die Frage, wie das Dorf die Bevölkerung im Lötschental halten kann. Was es tun kann, damit die «heimatlosen» Menschen nicht abwandern, bis ihr Dorf wieder aufgebaut ist. Oder: Wie sich der Tourismus im Lötschental wieder ankurbeln lässt.
Dann, 100 Tage nach dem verheerenden Bergsturz, informieren die Walliser Behörden über ihre Zukunftsvision von Blatten.
Allerdings: Wo genau Blatten wieder aufgebaut wird, ist noch nicht klar. Am Nesthorn gibt es immer noch Bewegungen am Berg – und die Naturgefahren bestimmen denn auch den Zeitplan des Wiederaufbaus.
Die Chance
Und Familie Bellwald-Hubert? Drei Monate nach dem Bergsturz lebt sie in ihrem neuen Zuhause: In einer Ferienwohnung in Wiler neben Blatten – mit Aussicht aufs Bietschhorn. «Wir können uns vorstellen, länger hier zu bleiben», sagt Laurent Hubert. Die beiden Buben, der elfjährige Noé und der neunjährige Luc, hätten sich rasch eingelebt.
Nach dem Ereignis war mir sofort klar: das ist unsere Chance – so lange Ferien werden wir nicht mehr haben.
Wobei: Allzu viel Zeit hat die Familie noch nicht in ihrer Wohnung verbracht. Mit einem Camper war sie den Sommer über im Norden, Schweden, Finnland, Dänemark. Früher hatten die vier wegen des laufenden Hotelbetriebs gerade mal eine Woche gemeinsame Ferien. «Nach dem Ereignis war mir sofort klar: das ist unsere Chance – so lange Ferien werden wir nicht mehr haben, wenn wir wieder im Tourismus arbeiten», sagt Esther Bellwald.
Doch so sehr die Ferien Erholung brachten, so sehr schmerzte die Rückkehr. Denn es war kein Zurück ins vertraute Heim. «Wir sind erst kurz vor der Abreise gezügelt und hatten uns noch nicht richtig eingenistet», sagt Laurent Hubert. Und Esther Bellwald erinnert sich, wie sie nach den Ferien als Erstes zum Berg hochschaute: «Es war, als würde alles wieder runterkommen – und ich begann zu weinen.» Ihr Bub habe sie gefragt, was los sei. Und Esther Bellwald realisierte: «Kinder nehmen das Ganze lockerer als Erwachsene, sie schauen nicht zurück, sie leben im Jetzt.»
Die Zuversicht
Dass Familie Bellwald-Hubert im Lötschental geblieben ist, hat vor allem mit den Kindern zu tun. «Jetzt, wo unser Zuhause weg ist, wollten wir sie nicht auch noch aus der Schule nehmen», sagt Esther Bellwald. Ihr Mann fügt an: «Wenn wir keine Kinder hätten, würden wir uns wohl irgendwo anders in den Bergen ein cooles Projekt suchen.»
Doch auch wenn die Familie im gewohnten Umfeld bleibt: Die Veränderung bleibt für die vier seit dem Bergsturz eine Konstante. Auch als Familie müssen sie sich neu erfinden. «Bisher war unser Zuhause immer auch unser Arbeitsplatz, die Kinderbetreuung ging mit der Arbeit zusammen – jetzt haben wir eine neue Haushaltssituation.»
Und doch: Immer wieder schlagen Esther Bellwald und Laurent Hubert auch Pflöcke ein. So planen sie etwa mit anderen Hoteliers des verschütteten Dorfes ein temporäres Hotel auf der Lauchernalp. 19 Zimmer soll es geben, auf ein eigenes Restaurant wird verzichtet. Der Kanton hat eine Million Franken dafür gesprochen. Die Eröffnung ist auf Dezember 2025 – pünktlich zum Start der Wintersaison – geplant.
Wir bleiben im Lötschental, darum engagieren wir uns jetzt erstmal hier.
Angebote, ein anderes Hotel ausserhalb des Lötschentals zu übernehmen, haben Esther Bellwald und Laurent Hubert ausgeschlagen. «Wir bleiben im Lötschental, darum engagieren wir uns jetzt erstmal hier», sagen sie – im Wissen darum, dass der Weg, der vor ihnen liegt, kein einfacher wird.
Aber wie hat Esther Bellwald kurz vor der Katastrophe gesagt: «Es kommt, wie es kommt.»