Zum Inhalt springen

Offene Clubs, offene Grenzen Ist die Schweiz jetzt beim schwedischen Modell angelangt?

Der Lockdown scheint hierzulande fast vergessen – viele scheinen Distanz- und Hygieneregeln nicht mehr so ernst zu nehmen. Die Zahl der gemeldeten täglichen Corona-Neuinfektionen nimmt wieder zu. Epidemiologe Marcel Tanner erklärt, warum die Fallzahl nicht das Wichtigste ist.

Marcel Tanner

Epidemiologe und ehemaliges Mitglied der Covid-19-Taskforce

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Marcel Tanner ist Präsident der Akademien der Wissenschaft , emeritierter Epidemiologie-Professor und war bis Januar 2021 Mitglied der vom Bundesrat eingesetzten Covid-19-Taskforce.

SRF News: Alle Läden haben wieder geöffnet, Veranstaltungen und Partys in Clubs sind wieder erlaubt. Die Grenzen sind offen. Ist die Schweiz jetzt beim schwedischen Modell angelangt?

Marcel Tanner: Nein, das kann man so nicht sagen. Das schwedische Modell hat mehr auf Solidarität gesetzt und darauf, dass es nicht mit so drastischen Massnahmen wie einem Lockdown nötig ist, die Infektionskurve zu glätten. Es bringt auch wenig, die verschiedenen Wege jetzt miteinander zu vergleichen. Es war von Anfang an klar, dass die Schweiz nach dem Lockdown nun in diese Phase der Öffnung kommen wird. Die Bevölkerung, die Behörden und die Wissenschaft müssen nun alles daran setzen, diesen grossen Schritt der Öffnung gemeinsam möglichst gut zu meistern. Mit den Grundregeln des Distanzhaltens, Hygienemassnahmen, Contact Tracing, Masken im ÖV und überall wo die Distanz nicht eingehalten werden kann sowie der SwissCovid-App sollte das möglich sein.

In Schweden sind an Veranstaltungen maximal 50 Personen erlaubt, bei uns aber können bis zu 1000 Personen zusammenkommen. Ist das nicht fahrlässig?

Wichtiger als allein die Anzahl der Teilnehmer einer Veranstaltung ist die Art und Weise wie Menschen sich treffen und die Schutzkonzepte, die gelten. Wenn Leute in einem Stadion draussen auf Sitzplätzen mit Abstand sitzen, ist das natürlich viel unproblematischer als wenn eine Party mit viel Bewegung in einem womöglich schlecht belüfteten Club gefeiert wird. Dort ist das Verbreitungsrisiko viel grösser, die Verfolgung schwieriger. Zentral ist auch, dass die Veranstalter mitdenken beim Entwickeln der spezifischen Schutzkonzepte, dass zum Beispiel Listen mit Teilnehmern geführt werden. Das hat man jetzt gerade an dem Beispiel des Zürcher Clubs gesehen, in dem es zu Ansteckungen kam. Nur so konnten alle Gefährdeten schnell kontaktiert und unter Quarantäne gestellt werden.

Die Zahl der Neuinfizierten steigt in der Schweiz seit einigen Tagen wieder an. Hat das auch mit der Zunahme der Tests zu tun?

Es ist sicher so, dass da ein Zusammenhang besteht. Trotzdem ist das besorgniserregend. Die Zahlen sind aber nicht entscheidend, wichtig ist die Dynamik des Anstiegs und wie die Fälle verteilt sind. Entscheidend ist zu wissen, wo die Übertragungsherde wieder aufflammen, damit die Kantone diese Nester sofort erkennen können, um dann auch sofort Massnahmen wie etwa einen lokalen Lockdown zu ergreifen. Es ist wie bei der Feuerwehr: wenn sie zwar weiss, dass es brennt, aber nicht wo, kann sie auch nicht löschen.

Es wird also wieder zu Lockdowns kommen?

Ja, es wird und muss geradezu wieder zu gezielten, eng begrenzten lokalen Lockdowns kommen. Nur so können Infektionsherde – und die wird es weiterhin immer geben – ausgemerzt werden.

Vielleicht muss man also mal eine Partymeile, ein Heim oder einen Betrieb unter einen Lockdown stellen (...).

Vielleicht muss man also mal eine Partymeile, ein Heim oder einen Betrieb unter einen Lockdown stellen, um grössere Herde oder Übertragungsketten zu kontrollieren. Gesamtwirtschaftlich wie auch sozial sind solche lokalen Lockdowns aber natürlich viel weniger schlimm als ein gesamtschweizerischer, den wir uns nicht mehr leisten können.

Sind die Kantone überhaupt in der Lage, die Fallzahlen schnell genug zu erkennen?

Viele Kantone sind dafür gut aufgestellt, andere noch am Lernen und am Ausbauen der Kapazitäten. Aber das ist ja immer so, am besten lernt man direkt am Objekt. Es ist also nicht zwingend so, dass das in zwei Wochen von Beginn weg besser geklappt hätte. Grundsätzlich bin ich zuversichtlich. Denn Angst ist immer ein schlechter Ratgeber im Leben. Ganz entscheidend ist aber, dass sich alle an die Hygiene- und Distanzregeln halten und alle von Veranstaltern bis zu den Partygängern und den Behörden am gleichen Strick ziehen. Krisen des erlebten Ausmass und die Rückkehr zur Normalität verlangt ein verantwortungsvolles Miteinander.

Das Gespräch führte Lukas Füglister.

10vor10, 21.50 Uhr, 25.06.20 ; 

Meistgelesene Artikel