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Overtourism in der Schweiz Wenn Einheimische von Reisenden überrannt werden

Auch für einen Tourismusort kann es zu viel sein. Doch die Kontrolle über Besucherströme zu erlangen, ist schwierig.

Amsterdam, Luzern oder Venedig – früher haben sie um Reisegruppen gebuhlt. Heute sagen viele, sie werden überrannt.

So zum Beispiel auch Lauterbrunnen. Der Ort hat zwar nur rund 2300 Einwohnerinnen und Einwohner, aber dafür umso mehr Touristen. Sie kommen vor allem wegen des Staubbachfalles. Er ist einer der höchsten Wasserfälle der Schweiz – und auf Instagram ein grosser Hit.

Diesen Sommer wurde Lauterbrunnen praktisch überrannt . Die Einheimischen sind genervt. Die Gemeinde hat bereits reagiert und Schilder aufgestellt, die um Rücksicht bitten. Lauterbrunnen ist keine Ausnahme, sondern eines von mehreren Beispielen hierzulande.

Beim Aescher mit hunderttausenden Followern

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Blick von mit Touristen gefülltem Gehweg auf das Aescher Gasthaus in Schwenden AI
Legende: Das Aescher Gasthaus in Schwenden AI (27.08.18) KEYSTONE/Gian Ehrenzeller

Touristenmagnet Alpstein mit dem herzigen Aescher: 2015 war das Bergrestaurant auf dem Titelbild vom National Geographic. Dann hat der US-Schauspieler Ashton Kutcher auf Facebook seine 17 Millionen Follower auf den Aescher aufmerksam gemacht. Und dann kam auch noch Roger Federer und hat ein Selfie vom Alpstein gepostet. Seither herrscht Dauerbetrieb auf dem Berg.

Die Wirtin des Aeschers erzählt: «Es hat auch schon eine angerufen, die hat gesagt, sie sei Instagramerin. Sie meinte, dass sie am nächsten Sonntag vorbeikäme für ein Fotoshooting auf der Terrasse. Sie habe 300'000 Follower. Ich habe gesagt, dass wir sicher nicht die ganze Terrasse für sie freimachen.»

Es stellt sich die Frage: Läuft etwas schief im Schweizer Tourismus? «Wenn man die Bevölkerung anschaut, dann sicher ja. Wenn man einige Souvenirshops fragt, dann wahrscheinlich nicht», sagt Jürg Stettler. Er ist Tourismusexperte an der Hochschule Luzern.

«Und das zeigt genau die Problematik, dass am Standort Lauterbrunnen zu einem gewissen Zeitpunkt oder häufig zu viele Touristen sind, die aus Sicht der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden. Insofern ja, es stimmt, dass es im Moment aus dem Ruder gelaufen ist», so Stettler.

Konflikt zwischen Gästen und Einheimischen

Overtourism heisst das Phänomen. Und daran sind eben auch die Touristikerinnen und Touristiker ein bisschen mitschuldig. Lange hat man beispielsweise in Asien gross Werbung gemacht für Schweizer Hotspots.

«Natürlich rächt sich das. Aber es ist auch eine Frage der Perspektive. Es gibt Touristiker, die sind der Meinung, wir hätten gar kein Overtourism-Problem und wenn, dann nur punktuell», erklärt Stettler. «Ich denke, da verkennt man die Problematik.»

Es geht um zwei Dinge, die sich im Kern widersprechen: Touristen bringen Geld, aber Touristen bringen eben auch Probleme.

Der ursprüngliche Segen von Social Media ist an gewissen Orten zu einem echten Problem geworden.
Autor: Jürg Stettler Tourismusexperte

«Grundsätzlich ist eine zunehmende Zahl von Touristen aus ökonomischer Sicht auf den ersten Blick ja sehr erwünscht», meint Stettler. Social Media sei dafür auch ein gutes Instrument – gewesen. Die Touristen hätten nämlich die Vermarktung übernommen. Aber damit wurde auch die Kontrolle abgegeben: «Der ursprüngliche Segen von Social Media ist an gewissen Orten zu einem echten Problem geworden.»

Wie soll man künftig Touristenströme lenken?

Früher, mit dem Gruppentourismus, habe man mehr die Kontrolle zur Steuerung der Reisenden gehabt, ist der Tourismusexperte überzeugt. «Je mehr individuelle Reisende kommen, umso schwieriger wird es. Das sagen mir eigentlich die meisten touristischen Verantwortlichen.»

Amsterdam vermarktet seine Vororte

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Seit 30 Jahren wohnt Elsbeth Gugger in Amsterdam. Sie war jahrelang SRF-Korrespondentin. «Der Grossteil der Bevölkerung, der eben im Zentrum wohnt oder im Rotlichtviertel, die ächzen und stöhnen und die leiden immer noch sehr stark. Ich lese das fast jeden Tag in der Zeitung», so Gugger. Auch Amsterdam sei diesen Sommer quasi überrannt worden: «Es hat spürbar mehr Menschen, mehr Gäste aus dem Ausland als vorher.»

Weil sich die Bevölkerung in Amsterdam darüber so nervt, haben die Behörden Massnahmen ergriffen: «Zum Beispiel dürfen Touristengruppen nicht mehr grösser sein als 15 Personen. Das gilt für die ganze Innenstadt. In den Rotlichtviertel darf man nicht mehr kiffen , was allerdings ein Witz ist, weil man nur ein paar Meter in eine Nebenstrasse zu gehen braucht.»

Die Hauptstadt der Niederlande versucht zudem schon länger, den Tourismus zu dezentralisieren: «Die Behörden möchten, dass die Menschen eher nach Zandvoort am Meer gehen, einem Badeort. Das nennen sie dann «Amsterdam Beach». Oder es gibt im Osten ein Schloss – das Muiderslot –: Das nennt man jetzt «Amsterdam Castle», um einfach alles zu machen, damit nicht alle Touristen in der Stadt herumhängen», erklärt Gugger.

In Venedig wird ab dem nächsten Jahr teilweise eine Lenkungsabgabe in der Höhe von fünf Euro eingeführt. «Zuvor haben sie über mehrere Jahre verschiedene Dinge so halb ausprobiert und merken jetzt auch, es braucht eine Lenkung», erklärt Stettler. «Das wird noch nicht die grosse Wende sein», aber es werde helfen, die Einnahmen, die Akzeptanz und schliesslich die Lenkungswirkungen zu untersuchen.

Eine solche Lenkungsabgabe wird derzeit auch in Lauterbrunnen diskutiert. Gut möglich also, dass künftig Eintritt bezahlen muss, wer das Dorf der Wasserfälle sehen will.

Regional Diagonal, 21.9.2023, 16:31 Uhr ; 

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