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Rahmenabkommen mit der EU Juncker: «Verhandlungsabbruch ist immer ein Zeichen von Schwäche»

Die Schweiz und das Rahmenabkommen – wie weiter? Der Bundesrat erwartet von der EU ein Entgegenkommen in den strittigen Punkten, die EU hingegen erwartet von der Schweiz, dass sie sich bewegt. Eine festgefahrene Situation, bei der viel auf dem Spiel steht. Jean-Claude Juncker war bis 2019 Präsident der Europäischen Kommission. Das Rahmenabkommen mit der Schweiz war sein Projekt. Junckers Rat an die Schweiz: Weiterverhandeln – denn ein Abbruch sei ein Zeichen der Schwäche.

Jean-Claude Juncker

Ehemaliger EU-Kommissionspräsident

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Jean-Claude Juncker (geb. 1954 in Redingen, Luxemburg) ist ein luxemburgischer Politiker der Christlich Sozialen Volkspartei (CSV/PCS). Er war von 2014 bis 2019 Präsident der Europäischen Kommission. Zuvor war er von 2005 bis 2013 Vorsitzender der Euro-Gruppe.

SRF News: Was würden Sie tun, wenn Sie der Schweizer Chefunterhändler wären?

Jean-Claude Juncker: Meine lange politische Erfahrung – auch im Umgang mit Drittstaaten – zeigt mir eines: Man sollte Verhandlungen nie abbrechen. Es wäre nicht gut für die Schweiz, ihre Interessen und die Wahrnehmung ihrer Anliegen, wenn sie den Verhandlungstisch verlassen würde.

Die in der Schweiz weit verbreitete Vorstellung, dass sich nur die EU bewegen müsse, ist eine totale Verkennung der Sachlage.

Verhandlungsabbruch ist immer ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke. Und was heute wie Stärke aussieht, kann sich mittelfristig als grosse Schwäche erweisen. Das wäre auch im Fall der Schweiz so, wenn sie die Verhandlungen abbrechen würde.

Bräuchte es nicht auch ein Zeichen des Entgegenkommens vom Gegenüber, damit es Sinn macht weiterzuverhandeln?

Sie stellen sich auf einen strikt schweizerischen Standpunkt. Das verstehe ich. Aber in der EU ist die Stimmungslage genau umgekehrt: Nach fünf Jahren Verhandlungen und nachdem ein unterschriftsreifes Papier auf dem Tisch lag, dachte man, dass die Schweiz einen Schritt Richtung EU machen sollte.

«Herzlicher» Empfang für die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga in Brüssel (2015).
Legende: «Herzlicher» Empfang für die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga in Brüssel (2015). Juncker sieht es als verpasste Chance für die Schweiz, dass sie das Rahmenabkommen unter seiner Ägide nicht zum Abschluss brachte. Keystone

Das ist immer so in Verhandlungen: Beide Verhandlungspartner denken, dass sich der andere bewegen muss. Beide haben das im Laufe der Verhandlungen getan, nun müssen beide noch weitere Schritte aufeinander zugehen. Die in der Schweiz weit verbreitete Vorstellung, dass sich nur die EU bewegen müsse, ist eine totale Verkennung der Sachlage.

Es gibt Ideen für Kompromisse, zuletzt ist ein Plan von Verteidigungsministerin Viola Amherd durchgesickert. Sie will der EU bei der Unionsbürgerrichtlinie entgegenkommen, fordert aber im Gegenzug eine Schutzklausel: Würden bei der Sozialhilfe bestimmte Grenzwerte überschritten, könnte die neue Regelung wieder sistiert werden. Ist die EU bereit, auf neue Ideen einzugehen?

Ich bin nicht länger Verhandlungsführer der EU und nehme auch nicht Stellung zu Überlegungen, die jetzt im Bundesrat angestellt werden. Als Kommissionspräsident habe ich mich redlich bemüht, die Sache unter Dach und Fach zu bringen. Ich habe meinen Schweizer Freunden immer wieder gesagt, dass sie sich nicht auf die Brexit-Verhandlungen konzentrieren sollen – in der Hoffnung darauf, dass sich als Randergebnis dieser Verhandlungen Vorteile für die Schweiz herausschälen.

Es wäre gut für die Schweiz gewesen, wenn sie das Abkommen mit mir abgeschlossen hätte. Das hat sie nicht getan und hat dieses Momentum verpasst.

Ich habe immer darauf hingewiesen, dass mit mir ein ausgewiesener Freund der Schweiz das Ruder in der Hand hält. Und dass dem nicht unbedingt so wäre, wenn sich die Personal-Tableaus sowohl in Bern als auch in Brüssel ändern. Es wäre gut für die Schweiz gewesen, wenn sie das Abkommen mit mir abgeschlossen hätte. Das hat sie nicht getan und hat dieses Momentum verpasst.

Sie sagten, die EU verlasse den Verhandlungstisch nie. Aber mit welchem Ziel? Bloss am Tisch sitzen bleiben ist ja noch keine Strategie.

Bei aller Liebe zur Schweiz: So viel Zeit haben wir nicht zu verlieren. Ziel der gesamten Veranstaltung wird immer sein, ein Abkommen mit unseren Schweizer Freunden zu erzielen. Das setzt im Übrigen voraus, dass für Klarheit in der innerschweizerischen Debatte gesorgt wird. Auch die Haltung der verschiedenen Bundesratsparteien ist nicht glasklar – auch nicht diejenige der Gewerkschaften und ihrer verschiedenen Untergruppierungen.

Die Schweizer Bundesratsparteien haben unterschiedliche Vorstellungen was das Rahmenabkommen betrifft. War diese Mehrstimmigkeit bis an den Verhandlungstisch spürbar als Sie noch Kommissionspräsident waren?

Nein. Aber von einigen Gesprächspartnern wurde mir bedeutet, dass es in der Schweiz noch Gesprächsbedarf gebe. Das ist angesichts der Fülle und Dichte der sich stellenden Probleme auch nicht ungewöhnlich. Ich habe das nie als einen Verhandlungstrick empfunden. Es war für mich ein Hinweis darauf, dass die innerschweizerische Demokratie sich in der Frage sortieren muss.

Ich kann der Schweiz nur raten, es nicht darauf ankommen zu lassen, den Vertragsabbruch Wirklichkeit werden zu lassen.

In der Schweiz deutet derzeit vieles auf einen Abbruch der Verhandlungen hin. Wie wird die EU reagieren, falls der Bundesrat die Verhandlungen tatsächlich abbrechen sollte?

Das weiss ich nicht. Ich sitze ja nicht auf dem Pilotensitz. Frau von der Leyen sitzt in der Führungskabine. Ich kann der Schweiz nur raten, es nicht darauf ankommen zu lassen, den Vertragsabbruch Wirklichkeit werden zu lassen. Das wäre ein Zeichen von Schwäche.

Und es hätte Massnahmen zur Folge.

Man wird davon ausgehen müssen, dass es zu keiner dynamischen Weiterführung der bilateralen Verträge kommt. Das liegt in der Natur der Sache.

Der Bundesrat verlangt beim Lohnschutz und bei der Unionsbürgerrichtlinie Klärungen. Bereiche, die für Schweiz im Hinblick auf eine Volksabstimmung zentral sind. Warum kommt die EU der Schweiz nicht mehr entgegen?

Ihre Fragen werden nicht dadurch besser, dass Sie sie dauernd wiederholen. Die Schweiz muss sich auch bewegen – nicht nur die EU muss das tun. Im Übrigen kennen die Schweizer Politiker die Befindlichkeiten in den 27 Mitgliedstaaten der EU. Diese sind genauso ernst zu nehmen wie die Schweizer Befindlichkeiten. Es ist ja nicht so, dass nur die Kommission in Brüssel mit der Schweiz verhandelt. Die 27 Mitgliedstaaten teilen millimetergenau die Positionen der Kommission. Und die EU-Kommission ist der Schweiz eigentlich freundlich gesinnt.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit vom 17.05.2021, 18 Uhr ; 

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