Schweizer Sozialwesen - Bei der Sozialpolitik gibt es noch Luft nach oben
Neue Forschungsergebnisse zeigen: Trotz Verbesserungen werden die Rechte von Menschen in prekären Situationen teilweise noch heute missachtet. Es brauche mehr Selbstbestimmung – aber keinen Flickenteppich.
Wer in der Schweiz arbeitsunfähig ist, die Wohnung verliert oder als Kind auf Schutz angewiesen ist, dem hilft der Sozialstaat. Von der Kesb bis zu Sozialhilfebehörden: Zahlreiche Stellen sollen dafür sorgen, dass Menschen hierzulande aus der Not herausfinden.
Das nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang» kommt nun zum Schluss: Die Sozialpolitik hat in den letzten Jahren zwar viel dazugelernt, an der Umsetzung aber hapert es teils noch. In Dutzenden Forschungsprojekten wurde das Schweizer Sozialwesen gründlich durchleuchtet – und Baustellen ausfindig gemacht.
Mehr zum Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang»
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2017 beauftragte der Bundesrat den Schweizerischen Nationalfonds (SNF), ein Forschungsprogramm zum Thema Fürsorge und Zwang durchzuführen. Auch mit dem Hintergrund der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981. Bis Ende 2023 analysierten rund
150 Forschende in 29 Projekten
Merkmale, Mechanismen und Wirkungen der schweizerischen Fürsorgepolitik und -praxis. Das Budget betrug 18 Millionen Franken.
Die Forschenden identifizierten Ursachen für integritätsverletzende sowie Bedingungen für integritätsschützende Praktiken und analysierten die Auswirkungen auf betroffene Personen. Die Ergebnisse des NFP 76 wurden in drei thematischen Buchbänden und in der Abschluss-Synthese «Eingriffe in Lebenswege» publiziert.
Flickenteppich Schweiz
Eine der Haupterkenntnisse ist laut Alexander Grob, dem Präsidenten der Leitungsgruppe, dass vor allem Menschen in prekären Situationen in der heutigen Fürsorgepraxis ihrer Stimme oft nicht Gehör verschaffen können. «Das hat weniger mit der gesetzlichen Grundlage zu tun, sondern mit der Komplexität dieser Gesetzgebung.» Gemeint mit «Menschen in prekären Situationen» sind beispielsweise im Heim platzierte Jugendliche oder alleinreisende Flüchtlinge.
Kritisiert wird der Flickenteppich an Aufgaben auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene im Sozial- und Fürsorgewesen. Laut den Forschenden soll eine schweizweite Harmonisierung Abhilfe schaffen, Verfahren und Finanzierung sollen überall gleich ablaufen. Handlungsempfehlungen haben die Forschenden in zehn Impulsen zusammengefasst.
Die zehn Impulse aus dem Forschungsprogramm
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Übergänge in das Erwachsenenleben erleichtern:
Die Bestrebungen, besonders vulnerable Jugendliche an den Übergängen in das Erwachsenenleben zu begleiten und sie auf dem Weg in die Selbstständigkeit zu unterstützen, sind zu verstärken.
Betroffene unentgeltlich und gezielt unterstützen:
Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen sowie ihre Nachkommen sollen einen einfachen Zugang zu unentgeltlicher Unterstützung erhalten. Zudem braucht es weiterhin die öffentliche Anerkennung des ihnen zugefügten Leids.
Forschung mit Betroffenen und Beteiligten fortsetzen:
Die Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart soll gemeinsam mit betroffenen Personen und unter Beteiligung von Akteuren und Akteurinnen des Sozialwesens, der Verwaltung und der Politik fortgeführt werden.
Normen hinterfragen und Professionalität stärken
: Fachpersonen sollen ihre Haltung reflektieren und weiterentwickeln können. Hierfür brauchen sie im beruflichen Alltag zeitliche und finanzielle Ressourcen.
Rechtsgleichheit garantieren:
Die Verfahren und die Finanzierung im Kindes- und Erwachsenenschutz sollen auf Bundesebene harmonisiert werden. Die rechtsgleiche Umsetzung und die Mitwirkung der betroffenen Personen sollen dabei gestärkt werden.
Zugang zu Hilfsangeboten vereinfachen:
Der Zugang zu den relevanten Informationen im Sozialwesen soll für Rat und Hilfe suchende sowie hilfsbedürftige Personen vereinfacht werden. Dazu gehören die verbesserte Aufklärung über Rechte und Pflichten sowie der Abbau administrativer und sprachlicher Barrieren.
Finanzielle Anreize im Sozialwesen richtig setzen:
Die Regeln der Finanzierung des Sozialwesens sollen so ausgestaltet sein, dass genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, Fehlanreize vermieden werden und Transparenz für alle Beteiligten gewährleistet wird.
Rechte und Mitwirkung von Betroffenen stärken:
Der Kindes- und Erwachsenenschutz ist so umzusetzen, dass die Sichtweisen und Anliegen der betroffenen Personen während des gesamten Verfahrens berücksichtigt werden. Die unterstützte Selbstbestimmung der Betroffenen ist konsequent zu fördern.
Den individuellen Bedarf ins Zentrum stellen:
Abklärungen im Kindes- und Erwachsenenschutz, in der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie sollen sich am individuellen Bedarf orientieren. Fachpersonen sind für potenziell stigmatisierende Wirkungen sozialer Zuschreibungen sowie psychologischer und medizinischer Diagnosen zu sensibilisieren.
Ressourcen zur Verfügung stellen, um Selbstbestimmung zu fördern:
Die Organisationen des Sozialwesens sollen finanziell und personell so ausgestattet und ihre Leistungen so bemessen sein, dass die von ihnen unterstützten Personen ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können.
«Es kann nicht sein, dass eine Person aufgrund ihres Wohnorts eine für sie zugeschnittene gute Unterstützung erhält und die andere, weil sie an einem anderen Ort wohnt, nicht», sagt Alexander Grob. Zum Beispiel kommen die Studien zum Schluss, dass Minderjährige auf Kantonsebene heute mehr fremdplatziert werden, Gemeinden hingegen ordnen tendenziell weniger Fremdplatzierungen an.
Selbstbestimmung für Jugendliche
Eine weitere Baustelle im Schweizer Sozialwesen bleibt, trotz Verbesserungen, die Mitwirkung der Betroffenen: «Die Selbstbestimmung im Verfahren ist ein grosses Problem. Vor allem für Menschen, die sprachliche Schwierigkeiten haben, unser System oder unsere Kultur zu verstehen.»
Bei Hausbesuchen, etwa im Auftrag der Kesb, könnten viele nicht nachvollziehen, wer bei ihnen klingelt, respektive welche Funktion die Fachperson habe.
Quasi von einem Tag auf den anderen haben sie keine Unterstützung mehr (...)
Auch sollten Jugendliche, die im Heim platziert waren oder geflüchtet sind, besser im Übergang zum Erwachsenenleben unterstützt werden. «Quasi von einem Tag auf den anderen haben sie keine Unterstützung mehr und werden in die Eigenständigkeit entlassen.» Auch hierfür bräuchte es mehr Ressourcen.
Mittel zur Aufarbeitung
Den Ursprung hat die grossangelegte Forschung in der Aufarbeitung des Schicksals der Verdingkinder. Diese waren von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zwischen den 50er- bis Anfang der 80er-Jahre betroffen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit sei vielfach mit einem Einbruch der Identität verbunden.
Neben der Anerkennung des Geschehenen brauche es auch finanzielle Mittel zur Aufarbeitung ihrer Geschichte. Eine weitere Erkenntnis der Studie ist denn laut Alexander Grob auch: «Eingriffe ins Leben haben langfristige Folgen.» Das gilt für früher wie heute.
Einheitliche Lösung für Solidaritätsbeiträge
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Die Schweiz zahlt den Opfern fürsorgerischer Fremdplatzierung, den Verdingkindern, auf Gesuch hin einen Solidaritätsbeitrag von 25'000 Franken.
Dieser Beitrag soll nun laut einer Gesetzesänderung schweizweit einheitlich nicht bei Ergänzungsleistungen berücksichtigt werden. Philipp Bregy (Die Mitte/VS) von der Rechtskommission sagt: «Zwischenzeitlich haben Kantone und Gemeinden ebenfalls Solidaritätsbeiträge beschlossen. Sie können diese aber nicht einfach aus der Berechnung der Ergänzungsleistungen herausnehmen. Hierzu braucht es eine Gesetzesänderung auf Bundesebene und das hat die Rechtskommission nun gemacht.»
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