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Täterinnen – eine Seltenheit «Man spricht den Frauen das Aggressionspotenzial ab»

Frauen, die Frauen Gewalt antun – das kommt, glaubt man den offiziellen Zahlen, sehr selten vor. Dennoch stehen vor dem Bezirksgericht in Zürich derzeit vier mutmassliche Täterinnen, alle zwischen 20 und 30 Jahre alt. Sie sollen eine 21-jährige Kollegin stundenlang gequält, erniedrigt und sexuell genötigt haben. Bei einer solchen Tat gehe es um Macht, sagt Agota Lavoyer von Lantana, der Fachstelle Opferhilfe für Frauen bei sexueller Gewalt.

Agota Lavoyer

Expertin für sexualisierte Gewalt

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Agota Lavoyer ist selbstständige Beraterin und Expertin für sexualisierte Gewalt. Als Beraterin, Referentin, Autorin und Kolumnistin engagiert sie sich für eine bessere Unterstützung von Opfern sexualisierter Gewalt und die Prävention von sexualisierter Gewalt.

SRF News: Wie oft beraten Sie in Ihrer Fachstelle Frauen, die Gewalt von anderen Frauen erfahren haben?

Agota Lavoyer: Erwachsene Frauen, die Gewalt von Frauen erfahren, beraten wir höchst selten. Anders sieht es bei sexueller Ausbeutung von Kindern aus. Da haben wir durchaus auch Fälle, bei denen eine Frau die Täterin war.

Frauen, die Gewalt gegen andere Frauen ausüben, sind eine Seltenheit. Muss man hier von einer Dunkelziffer ausgehen?

Generell weiss man, dass die Dunkelziffer bei sexualisierter Gewalt hoch ist. Also kann man wohl durchaus davon ausgehen, dass auch bei sexualisierter Gewalt von Frauen an Frauen eine Dunkelziffer besteht. Ich kann einfach sagen, dass wir solche Fälle wirklich kaum haben.

Warum sind Frauen weniger in der Rolle der Täterinnen?

Gesellschaftlich wird Gewalt von Frauen an Frauen viel eher bagatellisiert. Weil man davon ausgeht – was ja nicht stimmt –, dass Frauen per se friedfertiger sind als Männer und Konflikte gewaltfrei lösen. Man spricht den Frauen ein eigentliches Aggressionspotenzial ab, oder hat das lange gemacht. Erst in den letzten 10 bis 20 Jahren hat man angefangen, wirklich viel mehr zu forschen und auch die Augen gegenüber Männern zu öffnen, die Opfer werden, und eben auch gegenüber Frauen, die Gewalt ausüben.

Um was geht es den Täterinnen, wenn sie Gewalt ausüben? Unterscheiden sich ihre Beweggründe von jenen der männlichen Täter?

Es ergibt keinen Sinn, sexualisierte Gewalt von Frauen anders zu erklären als die von Männern. Auch der aktuelle Fall (der vier in Zürich angeklagten Frauen, Anm. d. Red.) zeigt exemplarisch auf, dass es bei sexualisierter Gewalt eben nicht um Lust, nicht um Sex geht, sondern um Macht, um Erniedrigung, um Kontrolle. Sexualisierte Gewalt ist immer eine reine Machtdemonstration.

Bei sexualisierter Gewalt geht es eben nicht um Lust, nicht um Sex, sondern um Macht, um Erniedrigung, um Kontrolle.

Das heisst, die Täterin oder der Täter sucht sich den Weg, der am effizientesten ist, um diese Macht zu demonstrieren. Und da ist es tatsächlich so, dass es extrem effizient ist, wenn man jemanden in der sexuellen Sphäre verletzt, da sexualisierte Gewalt eine völlig unerwartete und intime, massive Verletzung der sexuellen, der körperlichen und psychischen Integrität darstellt.

Unterscheidet sich die Beratung von Opfern, die sexuelle Gewalt erlebt haben, von der von Opfern, die unter psychischen oder physischen Gewalt leiden?

Bei Lantana beraten wir ausschliesslich im Bereich der sexualisierten Gewalt. Natürlich kann es durchaus sein, dass es auch eine Komponente der psychischen oder der körperlichen Gewalt hat. Grundsätzlich kann man sagen, dass das Erleben der Gewalt und der Folgen für alle Opfer sehr unterschiedlich ist und eigentlich kaum Unterschiede aufweist, wenn diese Gewalt von einer Täterin ausgeht. Ausschlaggebend ist, wie nah die Beziehung zum Beispiel zum Täter oder zu Täterin war. Wie massiv war die Gewalt? Was hat das Opfer früher schon erfahren müssen? Und so reagieren dann alle ganz unterschiedlich auf eine solch traumatische Gewalttat.

Das Gespräch führte Sibylle Wüthrich.

SRF 4 News, 09.07.2020, 06:15 Uhr ; 

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