Die Initiative der Mitte-Partei zur Abschaffung der Heiratsstrafe verlangt, dass Ehepaare weiterhin gemeinsam besteuert werden; aber sie kommt eigentlich zu spät ins Parlament. Denn dieses hat sich kürzlich für den Wechsel hin zur Individualbesteuerung ausgesprochen: Ob verheiratet oder nicht, jeder und jede füllt eine eigene Steuererklärung aus.
Die zwei Vorschläge, um die Heiratsstrafe abzuschaffen, widersprechen sich. Die Individualbesteuerung ist im politischen Prozess weiter. Sie kommt wohl früher zur Abstimmung. Und könnte danach von der Mitte-Initiative übersteuert werden.
Rechtlich gilt jüngerer Entscheid
Kann das demokratiepolitisch heikel werden, gar zu rechtlichen Problemen führen? Nein, sagt Andreas Glaser, Professor für Staatsrecht an der Universität Zürich. Denn verfassungsrechtlich gebe es keine Einschränkungen: «Rechtlich ist es möglich, das Ganze wieder aufzuheben, indem die Mitte-Initiative angenommen würde.» Rechtlich gilt also immer der jüngere Entscheid.
Dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger einen Entscheid bei einer nächsten Vorlage wieder umstossen, hält Glaser jedoch für unwahrscheinlich. Eine Initiative kann aber das Gegenteil einer vorherigen Abstimmung verlangen, wie zum Beispiel bei der Kampfjet-Beschaffung.
Im September 2020 sagte das Volk knapp Ja zum 6-Milliarden-Kredit für neue Kampfflugzeuge. Danach verlangte eine Volksinitiative, den Kauf des F-35 zu stoppen. Diese wurde aber zurückgezogen, weil das Parlament das Unterschreiben der Kaufverträge bereits genehmigt hatte.
Es sei ein politisches Risiko, sagt Professor Glaser, dass eine Initiative schlicht zu spät kommen könne und dass diese auf «Entscheidungen treffe, die früher getroffen wurden und aufgrund derer schon verbindliche Verträge geschlossen wurden.»
Auch ein Ja zu den EU-Verträgen könnte von einer Initiative übersteuert werden. Wenn das Vertragspaket mit dem Volksmehr angenommen würde und danach auch die Kompass-Initiative durchkäme, befürchtet der Experte ein grosses staatspolitisches Problem. Denn die Kompass-Initiative verlangt das doppelte Ja, also eine Mehrheit von Volk und Kantonen müsste zustimmen. Wenn die Verträge also am Ständemehr scheitern würden, was dann, Herr Professor?
«Formaljuristisch» könnte man den Knoten zwar lösen, sagt Glaser. «Dann müsste man sagen: Wir kündigen die Verträge wieder oder machen eine Art Rückabwicklung.» Für den Staatsrechtler ist aber klar: Die Annahme der EU-Verträge und der Kompass-Initiative würde eine staatspolitische Krise auslösen.
Bundesrat will nur Volksmehr
Um eine solche Krise zu verhindern, sieht Glaser eine Lösung: Die EU-Verträge von Anfang an dem Volk- und Ständemehr unterstellen, dann würde das Hauptanliegen der Kompass-Initiative bereits erfüllt und die Initianten würden sie vielleicht sogar zurückziehen. Der Bundesrat will nur die Mehrheit des Stimmvolks, doch das Parlament kann diesen Entscheid auch noch umstossen und die Mehrheit des Volkes sowie der Kantone verlangen.
Zur Schweizer Demokratie gehört, dass Entscheide manchmal nur vorläufig sind. Glaser sieht keinen Handlungsbedarf, daran etwas zu ändern. Die Politik müsse es richten, indem Initiativen zurückgezogen würden. Und die Stimmbürger könnten Zeichen setzen und ihre früheren Entscheide noch deutlicher bestätigen.