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Zwangsassimilation Jenischer: «Meine Mutter war in Haft, weil sie schwanger war»

Die Zwangsassimilation jenischer Kinder in den 1920er- bis 1970er-Jahren in der Schweiz gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Schweizer Sozialgeschichte.

Im 19. Jahrhundert wurde die «Sippenforschung» mit dem Aufkommen sozialdarwinistischer und rassenhygienischer Theorien auch in der Schweiz zu einem beliebten Forschungsfeld. Aufgrund dieser Forschung wurden Kinder aus jenischen Familien vom Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute von ihren Eltern getrennt. Die jenischen Kinder sollten sesshaft gemacht werden.

Christian Mehr war eines von ihnen.

Seine Geschichte und die seiner Mutter erzählt der Schriftsteller Michael Herzig in seinem Buch «Landstrassenkind». Ein schwieriges Projekt. «Mir war bewusst, dass ich keine Wahrheiten habe», sagt der Autor. «Auf der einen Seite stehen die schrecklichen Erlebnisse aus der Sicht der Betroffenen, auf der anderen Seite eine andere Sicht der Behörden, die ich aus den Akten entnehmen konnte.»

Seine Geburt, eine Straftat

Eindringlich schildert Herzig die Lebensgeschichte eines kleinen Jungen, der im Frauengefängnis Hindelbank zur Welt kam. «Meine Mutter wurde inhaftiert, weil sie schwanger war», erzählt Christian Mehr im «Tagesgespräch» von Radio SRF.

Das Einzige, was meine Schmerzen linderte, war Morphium.
Autor: Christian Mehr Jenischer

Gleich nach der Geburt wurde Mehr seiner Mutter weggenommen. Ein Schicksal, das sich in seiner Familie seit drei Generationen wiederholt. «Ich hatte nie die Chance, eine Beziehung zu meiner Mutter aufzubauen», sagt Mehr. Die Behörden waren der Meinung, Christian Mehr sei in der falschen Familie geboren und müsse in eine «gute Schweizer Familie», die ihn zu einem «guten Schweizer» erziehen würde.

Im Alter von 11 Monaten kam er in eine Pflegefamilie. Ein Unfall aus dieser Zeit prägt sein Leben bis heute. Laut Akten sei Christian Mehr in ein brühendes Wasserbad gefallen, weil er zu «zappelig» gewesen sei. Christian Mehr ist mit dieser Darstellung nicht einverstanden. «Ich wurde absichtlich ins heisse Wasser gestellt», ist Mehr überzeugt. Neun Monate lag der kleine Christian mit Verbrennungen zweiten und dritten Grades auf der Intensivstation des Berner Inselspitals.

Was sind Jenische?

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Beim Begriff Jenische handelt es sich um eine Selbstbezeichnung der Fahrenden – also einheimische Heimatlose – und deren heute grösstenteils sesshaften Nachkommen in der Schweiz, Deutschland und Österreich. Volkstümlich werden die Jenischen auch abschätzig «Zigeuner» genannt.

Während in Westeuropa zirka 100'000 Personen jenische Herkunft haben, leben heute einer Schätzung zufolge rund 35'000 Jenische in der Schweiz. Von ihnen führen noch etwa zehn Prozent eine fahrende Lebensweise vor allem als Messerschleifer, Altwaren-, Korb- und Kurzwarenhändler.

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS)

Die Wunden heilten, die Schmerzen blieben. Schmerzen, die zur Drogensucht führten. «Durch die unzähligen Spitalaufenthalte wurde mir klar: Das Einzige, was meine Schmerzen linderte, war Morphium.» Jahrzehntelang konsumierte Mehr verschiedene Substanzen, auch um seine Schmerzen zu betäuben. Heute ist er clean: «Keine Drogen, kein Alkohol», betont Mehr.

Einer von nahezu 600

Zu seiner Mutter, der preisgekrönten Schriftstellerin und Aktivistin Mariella Mehr, war das Verhältnis nicht immer einfach. «Sie hat für die ganze Welt gekämpft, aber für ihr Kind konnte sie das nicht», sagt Christian Mehr. Eine tragische Familiengeschichte, die exemplarisch für viele steht. Laut Pro Juventute wurden im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse» zwischen 1926 und 1973 fast 600 Kinder zwangsassimiliert.

Fahrende Kinder sitzen auf der Strasse
Legende: So wie Christian Mehr erging es vielen jenischen Kindern. (Im Bild: Kinder von Schweizer Fahrenden, unklar ob Sinti, Jenische oder Roma, aufgenommen im Jahr 1950) KEYSTONE/Str

Trotz aller Tragik in seinem Leben hat Christian Mehr seinen Kampfgeist nicht verloren. «Seit meinem sechsten Lebensjahr lautet mein Grundmotto: Aufgeben heisst verlieren», sagt Mehr. Für Schriftsteller Michael Herzig ist er ein unermüdlicher Kämpfer: «Christian ist für mich ein Stehaufmännchen. Er hat in seinem Leben viel Schlimmes ertragen müssen und ist trotzdem immer wieder aufgestanden.»

Das Fazit von Christian Mehr: «Wir sind versehrt, gebrandmarkt, traumatisiert und süchtig, aber wir sind nicht gebrochen.»

Tagesgespräch, 12.12.2023, 12:30 Uhr;kobt

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