Hat die Chefärztin einen sinnvolleren Job als der Dachdecker? Nein, sagt Arbeitspsychologe Theo Wehner. Der emeritierte Professor der ETH Zürich forscht seit Jahrzehnten zum Sinn in der Arbeit.
Eine wichtige Erkenntnis sei: Man kann Jobs nicht in mehr oder weniger sinnvoll einteilen. Der Sinn sei eine individuelle Angelegenheit. Theo Wehner sagt: «Zufriedenheit, selbst Glück, kann man noch leichter definieren als Sinn. Er ist höchst subjektiv.»
Untersuchungen zeigen allerdings: Wer keinen Sinn in seiner Arbeit erkennt, ist unzufriedener, hat mehr Fehlzeiten und ist gefährdeter, ein Burnout zu erleiden.
Weg von der Grossbank
Attila Baumgartner hat in seinem früheren Job keinen Sinn mehr gefunden. Er hatte seine Karriere einst bei der Grossbank Credit Suisse begonnen. Dort war er für die Finanzierung von Krediten verantwortlich.
Das Team sei gut gewesen, und er habe dort viel gelernt. Dennoch ist er ausgestiegen. «Über die Zeit habe ich gemerkt, dass ich hinter den Finanzierungen, die ich dort gemacht habe, immer weniger stehen konnte», sagt er.
Er habe in der Regel an Grosskonzerne Kredite vergeben, die keinen grossen Wert auf Nachhaltigkeit gelegt hätten. Seit drei Jahren arbeitet er für die Alternative Bank (ABS) in Olten. Auch hier ist er unter anderem für Kreditfinanzierungen zuständig. Die Bank richtet ihre Tätigkeiten aber konsequent auf Nachhaltigkeit aus. Das entspreche ihm mehr.
Auch die Gestaltungsfreiheit sei deutlich grösser: «Weil wir nur 150 Mitarbeiter sind, haben wir sehr viel umfangreichere Jobs. Es ist auch ein grosses Anliegen der ABS, dass die Meinungen der Mitarbeiter in die Entscheidungen der ganzen Bank hineinfliessen.» Bei der Credit Suisse sei man «ein kleines Zahnrad. Dort ist sehr klar geregelt, was deine Arbeit ist.»
Arbeiten mit «Sinnfinsternis» werden mehr
Theo Wehners Forschungen stützen dies. Die Auswertung von mehr als 100'000 Datensätzen von Mitarbeiterbefragungen in Schweizer Unternehmen hätten gezeigt: In Konzernen gelingt es nicht so leicht, Sinn zu generieren. In KMUs gehe das einfacher. Ein weiterer Befund: Produktionsberufe werden als sinnvoller empfunden als Dienstleistungsberufe.
Er stellt eine Veränderung in Bezug auf die Sinnsuche fest: «Ich muss leider sagen, dass der Anteil derer, die ihre Arbeit mit Sinnfinsternis umschreiben, immer grösser wird.» Heute ist man weniger bereit, das zu akzeptieren.
Sozialneid auf die Jungen
Diese Haltung wird oft der jungen Generation zugeschrieben – und kritisiert. Das lässt Theo Wehner nicht gelten: Auch seine Generation, jene der Babyboomer, habe schon mehr Freizeit und weniger Belastung gesucht. «Die Generationen Y und Z vertreten das mit mehr Selbstbewusstsein. Das ist für viele Ältere zurzeit sehr provozierend. Aber ich würde sagen, das ist sehr notwendig.» Dies mit Faulheit abzutun, sei letztlich Sozialneid der Älteren.
Die Kritik an den Jungen ist alt, sehr alt. Vom griechischen Philosophen Sokrates, gestorben 399 vor Christus, ist folgendes Zitat überliefert: «Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte.»
Freiwilligenarbeit als Sinn pur
Es gibt eine Arbeitsform, bei der es um nichts anderes als Sinn geht: Freiwilligenarbeit. Sie ist unbezahlt, und dennoch ist die Loyalität laut Theo Wehner grösser als zu Organisationen, die ihre Angestellten finanziell entlöhnen.
Kristina Sin ist eine dieser Freiwilligen. Sie entfernt in Aarau regelmässig mit einer Gruppe invasive Neophyten: Pflanzen, die nicht von dort sind und Umwelt und Tieren schaden können. Auch in ihrer Freizeit geht sie dieser Tätigkeit nach oder liest Abfall auf Wanderwegen auf. «Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit«, sagt sie. «Wenn ich auch so denken würde wie die meisten: nein, es geht mich nichts an, dann – irgendjemand muss ja irgendwo anfangen.»
Die gelernte Kauffrau macht ihre Naturverbundenheit in Kürze zum Beruf und tritt eine Stelle in einem Hundehotel an.
Dass sie für die Freiwilligenarbeit kein zusätzliches Geld erhält, stört sie nicht. Ein Dankeschön reiche ihr. Und der Glaube, die Natur zu schützen. Sie sagt: «Wenn ich dazu einen kleinen Beitrag leisten kann, mache ich das noch zehnmal gerne unentgeltlich.»
Attila Baumgartner nimmt in der Alternativen Bank eine erhebliche Lohneinbusse in Kauf. Boni gibt es dort nicht. Zahlen will er nicht nennen. Doch sei der Lohn immer noch ausreichend. Und er kann wieder hinter seiner Arbeit stehen.