Fünf Tage nach dem historisch knappen Volksnein vom 6. Dezember 1992 zum EWR-Beitritt debattierten Christoph Blocher und David de Pury im Fernsehen über die Zukunft der Schweiz. Blocher war klarer Abstimmungssieger, wollte sich aber nicht als solchen bezeichnen, de Pury gehörte zur Verliererseite. Der damalige Co-Präsident der ABB war früher Handelsdiplomat der Schweiz und verstarb 2000. Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann hat sich die alte SRF-Sendung «Die Freitagsrunde» angeschaut und bewertet die damaligen Prognosen von Blocher und de Pury.
SRF: Was ist Ihr Eindruck vom Aufeinandertreffen des Nein-Sagers Christoph Blocher und des Beitritt-Befürworters David de Pury?
Tobias Straumann: Herr de Pury war zu pessimistisch, Herr Blocher vielleicht etwas zu optimistisch.
Blocher behauptete, die Handlungsspielräume der Schweizer Wirtschaft seien ausserhalb des EWR besser. De Pury bestritt das. Wer behielt recht?
Sie waren ausserhalb kaum besser. Aus heutiger Sicht aber war die damalige Idee, dass die Schweiz ohne EWR absteigen würde, schlicht falsch.
Tatsächlich befürchtete de Pury, die Schweiz verliere nach dem Nein wirtschaftlich den Anschluss.
Das meinen sogar heute noch viele Menschen im Land, aber es ist falsch. Es gibt keine einzige Studie, die den Einfluss des EWR-Neins auf unsere konjunkturelle Entwicklung nachweisen würde. Die Schweizer Krise begann lange vor der Abstimmung und war etwa ein Jahr danach vorüber. Die Gründe für die Krise waren die Weltrezession, unsere massive Immobilien- und Bankenkrise und die damals schlechte Geldpolitik der Nationalbank. All das hatte mit der EWR-Abstimmung nichts zu tun.
De Pury war überzeugt, die Schweiz würde in ein paar Jahren über einen EU-Beitritt verhandeln. Blocher schloss das aus. Weshalb irrte sich de Pury so?
Er hatte stark das Gefühl, die Schweiz verliere nach dem Nein den Anschluss. Er war international geprägt, war Handelsdiplomat und dann Co-Präsident der ABB. Seine Überzeugung: In der globalisierten Welt sind Nationalstaaten unwichtig.
De Pury verwies darauf, dass die Europäische Gemeinschaft (EG) wirtschaftlich vorwärtsmache und die Schweiz den Zug verpasse. Blocher fand, man würde die Schweiz schlecht reden.
Viele Schweizer Politiker und Wirtschaftsführer hatten damals das Gefühl, hier es sei alles viel schlimmer. Aber Deutschland hatte enorme Probleme mit der Wiedervereinigung, Frankreich und Italien schon damals hohe Schulden. Der Vergleich mit den grossen Nachbarländern hätte zugunsten der Schweiz ausfallen müssen.
Die Schweizer Wirtschaft war damals verfilzt, Kartelle schotteten die Märkte teilweise ab, Parallelimporte wurden behindert. Der EWR hätte einen nötigen Liberalisierungsschock ausgelöst, betonte de Pury.
Ja, das wird im Gespräch auch von Blocher nicht bestritten. Er meint einfach, dass die Schweiz diese Probleme allein lösen könne, wenn sie es wolle. Das Parlament leitete dann tatsächlich einige Schritte ein, es ging nach dem Nein ein Ruck durch das Land, die Wirtschaft wurde liberaler aufgestellt. Allerdings ging man nicht so weit, wie das mit dem EWR-Beitritt passiert wäre.
Blocher war überzeugt, dass bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und der EU (damals: EG) verhandelt werden können, weil beide ein Interesse hätten. De Pury war skeptisch.
Blocher hatte recht: Die Verhandlungen wurden 1999 abgeschlossen. Knackpunkt war die Personenfreizügigkeit, die in der Schweiz eigentlich niemand wollte. Schlussendlich einigte man sich auf ein Lohnschutzsystem für Schweizer Arbeiter, die sogenannten flankierenden Massnahmen. Ein System übrigens, das der EWR-Vertrag nicht vorsah. Da sind die bilateralen Verträge klar besser, gerade für die Gewerkschaften.
Kann man 30 Jahre nach dem EWR-Nein sagen, ob dieses die bessere Zukunft für die Schweiz brachte als ein mögliches Ja zum Beitritt?
Die Frage ist kaum zu beantworten, weil wir ab 2002 die bilateralen Verträge hatten, die einige Teile des EWR beinhalteten. Eines kann man aber sagen: Die Schweiz hat den Nicht-Beitritt im Gegensatz zu vielen Prognosen sehr gut überlebt.
Also: Wer von den beiden, Blocher oder de Pury, hatte den stimmigeren Blick in die Zukunft?
Blocher schätzte die Entwicklung der Schweiz sicher besser ein.
Das Gespräch führte Michael Perricone.