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Nobelpreisträger am WEF Ist die Globalisierung gescheitert, Herr Stiglitz?

Das drängendste Thema des Weltwirtschaftsforums war zweifellos der Ukraine-Krieg. Doch auch die damit verbundenen wirtschaftlichen Aussichten gaben zu reden. Und die verfinstern sich zusätzlich: Inflation, Ernährungskrise, Lieferkettenprobleme – überall ist dabei auch von Deglobalisierung die Rede. Doch der Star-Ökonom Joseph Stiglitz sagt, dass nicht die Globalisierung das Problem sei.

Joseph Stiglitz

Wirtschaftsnobelpreisträger

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Der US-amerikanische Ökonom ist Professor an der renommierten Columbia University in New York. Er war Chefökonom der Weltbank und Wirtschaftsberater des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Er erhielt 2001 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften.

SRF News: Sie sind seit Jahrzehnten ein dezidierter Kritiker der Globalisierung. Nun ist hier in Davos die Rede von Deglobalisierung. Ist das eine gute Entwicklung?

Joseph Stiglitz: Das Grundproblem ist die übermässige Konzentration der wirtschaftlichen Macht, die übermässige Konzentration der Produktionskräfte, und nicht nur die Globalisierung. Wir haben das soeben sehr deutlich in den Vereinigten Staaten an der Verknappung von Babynahrung gesehen. Wir hatten hier keine Globalisierung: Die gesamte Babynahrung wurde vor Ort in den Vereinigten Staaten hergestellt. Und trotzdem hatten wir einen wirklich lebensbedrohlichen Mangel an Babynahrung.

Die wirtschaftliche Situation ist auch für viele Menschen im globalen Süden beängstigend. Dort nimmt die schwerste Hungerkrise seit Langem ihren Lauf und das , obwohl es im Prinzip auf der Welt genügend Nahrungsmittel gäbe. Da läuft etwas gewaltig schief?

Es gibt nicht wirklich eine Lebensmittelknappheit. Wenn man sich die weltweite Produktion anschaut, dann geht die weltweite Produktion nur ein wenig zurück. Ja, die Ukraine ist wichtig, als Exporteur.

Es gibt nicht wirklich eine Lebensmittelknappheit.

Aber wenn wir uns das gesamte Angebot an Nahrungsmitteln in der Welt anschauen, dann ist es nur ein wenig zurückgegangen. Wenn dieses besser verteilt würde, dann könnten wir alle auch gleichzeitig unsere Kalorienzufuhr ein wenig reduzieren. Wissen Sie, wenn Sie Fleisch essen, verbrauchen Sie siebenmal mehr Getreide als wenn Sie das Getreide direkt essen.

Das passiert aber nicht.

Ja, das wird nicht gemacht. Im Grunde ist es also ein Verteilungsproblem, und der Markt löst dieses Verteilungsproblem nicht auf gerechte Weise.

Mit der wirtschaftlichen Isolation Russlands besteht das Risiko eines «eisernen Wirtschaftsvorhangs» oder einer Achse Moskau-Peking, die die Weltwirtschaft nach ihrem Gusto umgestalten kann. Wären das denn gute Aussichten?

Das wären keine guten Aussichten. Vor allem, weil das wichtigste Problem, dem die Welt heute gegenübersteht, der Klimawandel ist. Wenn sich das Klima weiterhin so verändert, wie es jetzt der Fall ist, dann werden die Kosten enorm sein. Dazu kommen Konflikte und Migration, die riesige Herausforderungen sein werden. Und dieses Problem muss global gelöst werden.

Da müssen Russland und China also mit am Tisch sitzen?

Wir brauchen Zusammenarbeit. Wir teilen diesen einen Planeten. Es ist also keine Nullsummenwelt und wir können immer noch gewisse wirtschaftliche Beziehungen haben.

Diese Beziehungen sind sicher wichtig. Aber vielleicht brauchen wir auch andere Leitgedanken. Wachstum alleine nimmt keine Rücksicht auf Probleme wie das Verschwinden der Biodiversität oder die Klimakrise. Ist Wirtschaftswachstum eventuell die falsche Priorität?

Ich würde es so ausdrücken: Die Art des Wirtschaftswachstums muss sich ändern. Ich denke, wir können in gewissem Sinne innerhalb unserer Grenzen des Planeten expandieren. Aber wir müssen unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft und die Art und Weise, wie wir Dinge messen, umgestalten. Ein hoher Lebensstandard ist nicht dasselbe wie ein hoher materialistischer Lebensstandard.

Die Art des Wirtschaftswachstums muss sich ändern.

Die Dinge, die mir am meisten Freude bereiten, sind das Lesen eines Buches oder das Diskutieren von Ideen und nicht viele materielle Güter zu konsumieren.

Das Gespräch führte Arthur Honegger.

10vor10, 25.05.2022, 21.50 Uhr ; 

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