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Ohne Horizon Europe Wie Schweizer Spitzenforscher ausgebremst werden

Ausgerechnet die Besten ihres Fachs spüren die Folgen des gescheiterten Rahmenabkommens. Ihre Berichte sind eine Warnung.

Es sind zwei Geschichten von unzähligen, die sich derzeit in der Schweizer Forschungslandschaft zutragen.

Jungprofessorin Anissa Kempf gehört zu Europas Forschungs-Elite. Sie hat für ihre Schlaf-Forschung an Fliegen an der Universität Basel einen der begehrten ERC Starting Grants (siehe Box) zugesprochen bekommen. Die 1.5 Millionen Euro musste sie allerdings ablehnen. Denn sie hat sich entschieden, in der Schweiz zu bleiben.

Domenico Giardini leitet seit 20 Jahren europaweite Projekte in der Erbebenforschung. Diese Verantwortung ist ihm jetzt entzogen worden.

ERC Starting Grant: Der Beginn grosser Karrieren

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In einem mehrstufigen Auswahlprozess erhalten jedes Jahr junge europäische Forscher und Forscherinnen jeweils 1.5 Millionen Euro für ein Projekt.

In diesem Jahr haben 28 Personen in der Schweiz einen Starting Grant zugesprochen bekommen, darunter allein elf Forscher und Forscherinnen der ETH Zürich.

Die EU hatte schon im Vorfeld verkündet: Wollen sie das Geld der EU beziehen, müssen sie an eine Universität in der EU wechseln. Diesen Wechsel sollten sie bis 22. Februar 2022 organisiert haben.

Bleiben sie in der Schweiz, übernimmt der Bund vorerst die Finanzierung. Er hat auch ein Ersatz-Auswahlverfahren erarbeitet. Denn ab diesem Jahr können sich Forschende von Schweizer Universitäten nicht mehr für die ERC Starting Grants bewerben.

Der Grund: Die EU hat die Schweiz von Horizon Europe ausgeschlossen. Es ist mit 95 Milliarden Euro das grösste Forschungsprogramm weltweit. Der Ausschluss ist eine Konsequenz der abgebrochenen Verhandlungen um das Rahmenabkommen.

Forschungs-Präsidenten appellieren an Bundesrat

Michael Hengartner, Präsident des ETH-Rates, erlebt viele frustrierte Forscher und Forscherinnen. Er sagt: «Was weh tut, ist, dass wir uns nicht im Wettbewerb zeigen können.» Sie fühlten sich, «wie wenn sie von der Olympiade ausgeschlossen sind», nur weil sie jetzt in der Schweiz leben.

Gemeinsam mit den Verbänden Swissuniversities und Scienceindustries hat Michael Hengartner am 23. Januar einen Appell an den Bund gerichtet.

Darin warnen sie vor gravierenden Konsequenzen für die Schweiz. Sie fordern den Bundesrat auf, eine Assoziierung anzustreben und in der Zwischenzeit Massnahmen zu ergreifen, um den Schweizer Forschungs- und Innovationsplatz attraktiv zu halten.

Der Bund versucht derzeit, die Lücken mit eigenen Auswahlverfahren und Geldern zu füllen. So wird Anissa Kempf die 1.5 Millionen Euro von der Schweiz erhalten. Zudem hat sie gerade eine Professur an der Universität Basel angetreten, ihr Projekt ist gesichert.

Politische Stimmen: SP und Mitte warnen, SVP beruhigt

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Eva Herzog , SP, Mitglied Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur: «Wenn es Signale gäbe, dass man sich jetzt noch [an EU-Ausschreibungen] beteiligen und 2023 dabei sein kann, wäre es noch eine Begrenzung des Schadens. Sonst habe ich wirklich Angst.»

Andrea Gmür , Die Mitte, Mitglied Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur: «Der Bundesrat muss einerseits möglichst rasch aktiv werden und klipp und klar sagen, was er jetzt eigentlich will. Er darf sich gleichzeitig nicht zu fest von der EU unter Druck setzen lassen.»

Thomas Aeschi , SVP: «Man muss einfach akzeptieren, wenn das die Europäische Union nicht will. Aber man sollte versuchen, mit anderen Staaten die Zusammenarbeit zu vertiefen, wie mit Grossbritannien oder den USA.»

Allerdings sei ein ERC Starting Grant mehr als das, so Kempf. «So ein Grant ist mit viel Renommée und Prestige verbunden. Es geht nicht nur ums Geld. Es geht darum, dass man sich mit einer Idee hat durchschlagen können.» Es gebe dem Projekt einen Qualitätsstempel, denn der Auswahlprozess sei aufwändig, mehrstufig und anspruchsvoll.

Auch Erdbebenforscher Domenico Giardini sagt, bei Horizon Europe dabei zu sein, sei keine Frage des Geldes. «Es ist vielmehr die Möglichkeit zu beeinflussen, was passiert, wo die Prioritäten sind. Wir sitzen nicht mehr am Tisch, um zu entscheiden.»

Für ihn ist klar: «Die Schweiz kann keine Insel sein. Wenn ein Professor nicht in die Schweiz kommt, kommen auch nicht die besten Doktoranden und Forscher auf diesem Gebiet. Das heisst: Wir werden leiden.»

Denn nicht nur Schweizer Forschende haben einen Nachteil im EU-Ausland. Auch für ihre internationalen Kolleginnen und Kollegen droht die Schweiz unattraktiv zu werden.

Das Abwerben hat begonnen

Das hat man im Ausland bereits erkannt: Mehrere Forschende berichten SRF, dass sie von Universitäten aus EU-Ländern umgarnt würden. Das grosse Abwerben hat bereits begonnen.

Es bleibt die Frage, was schneller geschehen wird: der Exodus von Spitzenforschern an eine Universität in der EU oder eine Lösung im Stillstand um das Rahmenabkommen.

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25.01.22, 10vor10, 21:50 Uhr

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