Die Finanzkrise, die vor zehn Jahren ihren Anfang nahm, ist längst vorbei. Doch die Europäische Zentralbank EZB kehrt nur zögerlich zu einer normalen Geldpolitik zurück. Otmar Issing ist der erste Chefökonom, den die Europäische Zentralbank je hatte. Er hat die Gründung der EZB in den 90er-Jahren massgeblich mitgestaltet.
Issing ist die jetzige Politik zu langsam. «Die Konjunktur im Euroraum hat sich gut erholt. Der Output-Gap ist mehr oder weniger geschlossen. Das verlangt nicht mehr nach einer Politik, die derart expansiv ist.»
Italien mit Reformen im Rückstand
Issing meint damit zum einen den rekordtiefen Leitzins von null Prozent. Zum anderen die monatlichen, milliardenschweren Anleihekäufe, mit denen die EZB ihre Mitgliedsstaaten stützt. Mit diesen unkonventionellen Massnahmen haben die Währungshüter den kriselnden Euro-Staaten Luft verschafft.
«Es gab mal die Vorstellung, dass man den Ländern Zeit kauft für Reformen. Das hat im Falle Spaniens und Irlands gewirkt. Dort geht es auch voran. In Italien ist die Zeit vergeudet worden.»
Für den Deutschen ist deshalb klar, dass die EZB auf Italien bei ihren geldpolitischen Entscheiden nicht länger derart stark Rücksicht nehmen sollte, sonst kämen die längst überfälligen Reformen dort nicht in die Gänge.
Keine irritierenden Signale aussenden
Mit konkreten Ratschlägen, was soll die EZB stattdessen tun soll, hält sich der 82-Jährige EZB-Doyen zurück. Ob es besser wäre, die Anleihenkäufe abrupt zu stoppen statt sanft auslaufen zu lassen, oder sie die Zinsen erhöhen soll, dazu äussert er sich nicht. «Ich will nicht über die Abfolge der einzelnen Schritte ein Urteil abgeben, da kann man sich vieles vorstellen. Aber nun schon anzukündigen, ‹vor nächsten Sommer denken wir gar nicht daran, die Zinsen zu erhöhen›, das sind Signale, die doch irritieren.»
Wie das politisch wacklige Italien und wie die Finanzmärkte auf eine härtere Gangart der EZB reagieren würden, ist nicht klar. Die heutige EZB-Spitze wird jedenfalls an ihrem vorsichtigen Kurs festhalten.