Ein über tausend Hektare grosser Urwald erstreckt sich vor den Toren der Stadt Zürich. Dank des Totholzes finden rund 6000 Tier-, Pilz- und Pflanzenarten einen neuen Lebensraum. Seltene Urwaldreliktarten wie der Kleine Kugel-Stutzkäfer oder die Zitronengelbe Tramete sind nun zurückgekehrt und haben hier eine neue Heimat gefunden.
Diese seltenen Tier- und Pflanzenarten sind im Sihlwald zu finden
-
Bild 1 von 3. Grünes Koboldmoos (Buxbaumia viridis). Das Grüne Koboldmoos ist nur rund einen Millimeter gross. Im Sommer sind die charakteristischen orange-braun gefärbten Stiele (sogenannte Seten) und die grünen, langen Sporenkapseln sichtbar. Diese sind zuerst grün, zur Sporenreife trocknen sie aus, werden hellbraun und reissen auf. Aus diesen Kapseln entlassen sie Sporen. Bildquelle: Wildnispark Zürich.
-
Bild 2 von 3. Zitronengelbe Tramete (Antrodiella citrinella). Die Zitronengelbe Tramete lebt auf stark zersetztem Untergrund. Ihr Lebensraum sind Buchenwälder, Tannen-Buchenwälder und Tannen-Fichtenwälder. Dort mag es der Pilz kühl und feucht. Bildquelle: Wildnispark Zürich.
-
Bild 3 von 3. Kleiner Kugel-Stutzkäfer (Abraeus parvulus). Der Kleine Kugel-Stutzkäfer ist das Symbol für die Rückkehr der Wildnis. Er zählt zu den sogenannten Urwaldreliktarten und ist extrem selten. Er kommt fast nur noch in Naturwaldreservaten vor. Der Käfer bevorzugt alte, weit abgebaute Baumruinen bzw. stehende, strukturreiche Stämme mit grösseren Durchmessern (60 cm). Bildquelle: Wildnispark Zürich.
Optisch unterscheidet sich der Sihlwald deutlich von herkömmlich bewirtschafteten Wäldern: Umgestürzte Bäume mit moosbewachsenen Wurzeltellern, Spechtlöchern und Baumpilze prägen das Bild. Das Holz wird bewusst liegen gelassen und so entsteht ein wertvolles Naturwaldreservat.
Im Sihlwald wird auch geforscht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können hier die ökologischen Prozesse in einem weitgehend unbeeinflussten Wald beobachten. Was passiert, nach jahrhundertelanger Nutzung, wenn der Mensch nicht mehr eingreift? Zu wissen, wo das hinführt, sei auch für die klassische Forstwirtschaft von Interesse, sagt die Sihlwald-Kennerin Isabelle Roth.
Isabelle Roth ist für den Bereich Naturwald und die Naturschutzprojekte zuständig. Seit 25 Jahren begleitet sie den Sihlwald zurück auf seinem Weg zum Urwald. Beim Gang durch den Wald zeigt sie Redaktor Alex Moser einen umgefallenen Baumstamm aus den 1990er-Jahren und erklärt: «Dieser Baum baut sich langsam ab. Er bietet zahlreichen Lebewesen einen Lebensraum».
Es geht nicht ohne den anderen
Erst kürzlich haben Forscherinnen und Forscher einen speziellen Pilz entdeckt. Die zitronengelbe Tramete. Dieser Pilz taucht erst auf, wenn der rotrandige Baumschwamm schon da ist. Auf ihn ist die zitronengelbe Tramete angewiesen und zusammen bauen sie mithilfe vieler Käfer und später auch Bakterien das Holz ab, erklärt Isabelle Roth die Zusammenhänge in einem Wald, wo der Mensch nicht eingreift.
Die Entstehung des Sihlwaldprojekts
Die Ursprungsidee des Sihlwaldprojekts war, die Menschen an die Natur heranzuführen. Inzwischen ist er auch ein Ort, wo sich die Menschen erholen und sich zu Themen rund um die Natur weiterbilden können.
Die Idee, aus dem Sihlwald einen Urwald zu machen, hatte der damalige Zürcher Stadtforstmeister Andreas Speich im Jahr 1986. Er sah im Rückgang von naturnahen Laubmischwäldern unsere Waldheimat in Gefahr. «Weltweit verschwindet der Naturwald in rasendem Tempo», war seine Begründung. Doch sein Vorschlag stiess auf grossen Widerstand. Ein über 1000 Hektare grosser Urwald vor den Toren der Stadt Zürich war für viele undenkbar. Mit der Unterstützung seines damaligen Chefs, des ehemaligen EVP-Stadtrats Ruedi Aeschbacher, konnte die Idee trotzdem umgesetzt werden. Seit dem Jahr 2000 wird der Sihlwald nicht mehr bewirtschaftet.
Park von nationaler Bedeutung
Der Sihlwald ist heute das grösste Naturwaldreservat im Schweizer Mittelland und gleichzeitig der erste offiziell anerkannte Naturerlebnispark der Schweiz. Dieses Label wurde dem Park im Jahr 2010 vom Bund verliehen. Seit kurzem gibt es in Lausanne einen zweiten Schweizer Naturerlebnispark. Die Idee vom ehemaligen Zürcher Stadtforstmeister Andreas Speich scheint sich langsam durchzusetzen.