Der erste Besuch in der neuen Wahlheimat war ein Schock: 45 Grad Hitze, Millionen von Menschen, Chaos, Lärm, dazu die berüchtigte Durchfallerkrankung «Delhi-Belly»: «Niemals gehe ich dahin!», sagte der damals elfjährige Sohn. Doch da war die Entscheidung längst gefällt. Seit September 2022 leben wir in der Wirtschaftsmetropole Mumbai. Die feuchte Hitze, die Millionen Menschen, das Chaos und der Lärm sind geblieben. Aber inzwischen ist das für uns Alltag geworden.
Delhi und Mumbai – ein paar Unterschiede
Nicht das berühmte Taj Mahal, aber auch sehr schön: das Humayun-Mausoleum aus dem 16. Jahrhundert in Indiens Hauptstadt Delhi, gut zwei Flugstunden entfernt von uns. In Delhi gibt es viel mehr Platz, ausgedehnte Parks, deutlich günstigere Wohnungen, aber leider auch viel schlechtere Luft. Der Smog in Delhi verkürzt die Lebenserwartung der Hauptstädter um fast zwölf Jahre (!), hat die Universität Chicago berechnet. Mit zwei Asthmatikern in der Familie haben wir uns daher für Mumbai entschieden. Aber auch hier gibt es Tage, an denen die Luft so stinkt, dass wir möglichst in der Wohnung bleiben.
Zeigt die wachsende Ungleichheit: Slum in Mumbai
Indien wächst so stark wie kein anderes Land der Welt. Aber die Ungleichheit hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Das ist wahrscheinlich nirgendwo so sichtbar wie in Mumbai. Auf den vielen neuen Strassen fahren viele teure Import-Autos. Tausende Hochhäuser mit Luxuswohnungen werden gebaut, auch eine Metro-Linie. Von diesem Fortschritt haben die Millionen von Menschen, die zwischen den Hochhäusern in Slums ohne WC und Wasseranschluss leben, aber nichts. Dieser junge Arbeitsmigrant im Dharavi-Slum näht für ein paar Franken am Tag Hosen zusammen, sieben Tage die Woche. Wie seine Kollegen schläft er unter der Nähmaschine. So spart er das Geld für die Miete.
Kühe sind heilig
Kühe gelten der Hindu-Mehrheit in Indien als heilig. Wer sie berührt oder füttert, darf auf Wohlstand und Gesundheit hoffen. Weil sie in vielen Bundesstaaten nicht geschlachtet werden dürfen, streunen sie in Städten herum und fressen Plastikabfall. Religion dominiert auch sonst das Leben. Kaum ein Hindu-Taxifahrer, der keine Statue vom Elefantengott Ganesha auf dem Armaturenbrett kleben hat. Bei den Christen fährt dafür ein kleiner Jesus mit. Muslime sind meist in traditioneller Kleidung unterwegs. So weiss man immer, woran man ist. Ganz Mumbai ist voller Tempel, Moscheen und Kirchen. Der Jahreskalender ist bestimmt von religiösen Festen. Aber die Religionen leben hier in Frieden miteinander – was nicht mehr selbstverständlich ist in Indien.
Street-Food-Angebot – auch vegetarisch und vegan
Essen spielt eine zentrale Rolle auf dem Subkontinent. Jede Region hat ihre eigene Küche. Mumbai ist berühmt für sein Street Food. Überall an den Strassen wird gebrutzelt und gebraten. Dazu trinkt man grandiosen Gewürztee mit Milch im Pappbecher. Auch für Vegetarier und Veganerinnen gibt es ein riesiges Angebot. Das liegt daran, dass vor allem Angehörige höherrangiger Hindu-Kasten kein Fleisch essen, zum Teil auch keine Eier. Darum wird in vielen Bäckereien eierloser Kuchen angeboten. In vielen Bundesstaaten, auch in unserem, ist es aus religiösen Gründen verboten, Kuhfleisch zu essen. Für einen richtigen Beef-Burger fürs Kind müssen wir in den Süden, nach Goa oder Kerala fahren, da darf Rindfleisch legal verkauft werden. In Mumbai müssen sich Fleischfans mit Poulet und Wasserbüffel begnügen.
Einziger Grenzübergang zwischen Indien und Pakistan
Das überwiegend hinduistische Indien und das überwiegend muslimische Pakistan mögen sich nicht. Es gibt keinen Direktflug und nur einen einzigen Grenzübergang auf dem Land. Ich habe viele Monate auf das Visum warten müssen, aber im Januar 2024 konnte ich endlich über die Grenze gehen. Ein Erlebnis der besonderen Art: Spätnachmittags unter der Woche führen pakistanische und indische Soldaten mit todernstem Gesicht, beineschwingend und mit buntem Kopfschmuck ein kurioses Fahnenspektakel auf. Schon das ist eine Reise wert.
Afghanistan in ungewohnter Arbeitskleidung
Afghanistan, Februar 2023. Ich hatte viel Respekt vor dieser Reise: radikal-islamische Taliban, strenge Kleidervorschriften (im August 2024 wurden diese noch verschärft, jetzt ist Vollverschleierung Pflicht). Damals habe ich noch schnell einen schwarzen Schal am Flughafen gekauft, für die Haare; den schwarzen langen Mantel hat der afghanische Kollege in Kabul besorgt. Für mich nur eine ungewohnte Arbeitskleidung, für viele Afghaninnen unbedingte Voraussetzung, um überhaupt noch auf die Strasse gehen zu dürfen. Andererseits haben mich das Licht, die Berge, die Gastfreundschaft fasziniert. Sie lassen gelegentlich vergessen, dass das Land von islamistischen Terroristen regiert wird. Die Taliban, die ich getroffen habe, waren zwar schwerbewaffnet, aber überwiegend höflich und bemüht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Doch nachdem ich viel über unterdrückte Frauen berichtet habe, lassen sie mich nicht mehr einreisen.
Unter prekären Bedingungen: Teepflückerin in Sri Lanka
In Sri Lanka haben mich die Teepflückerinnen im Hochland besonders beeindruckt. Die tamilischen Familien stammen ursprünglich aus Indien. Sie sind von den britischen Kolonialherren als billige Arbeitskräfte nach Sri Lanka in die Plantagen geholt worden und leben dort auch Generationen später noch unter prekären Bedingungen. Der Mindestlohn ist zu niedrig, um über die Runden zu kommen, die hohe Inflation nach der schweren Wirtschaftskrise im Land hat ihre Lage nochmals verschlechtert. Die Hoffnung der Familien ist Bildung – damit es die Kinder einmal besser haben.
Weitverbreitete Armut und ein Lehrer für 120 Kinder
Armut ist immer noch weit verbreitet in meinem Berichtsgebiet. Auf Strassenkreuzungen in Mumbai betteln schon sehr kleine Kinder. Auf den Baustellen arbeiten ungelernte Migranten aus den strukturschwachen Regionen im Norden und Osten Indiens für knapp drei Franken am Tag. Bei einer Reise in den Bundesstaat Jharkhand habe ich eine Schule besucht, in der ein Lehrer 120 arme Kinder aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen unterrichtet – theoretisch zumindest, denn oft taucht er gar nicht erst auf. Leider keine Ausnahme. Die Kinder lernen so gut wie nichts, werden arm bleiben und bald ebenfalls Tausende von Kilometern entfernt auf den Baustellen Mumbais Arbeit suchen.
Mumbai mit Kind und Hund
Der Sohn, der eigentlich nicht mitwollte nach Indien, hat seinen Frieden gefunden. Wesentlich dazu beigetragen hat – neben vielen neuen indischen Schulfreunden – ein Bestechungsgeschenk namens Mala, ein frecher indischer Pudel. Und: Sport. Denn wider Erwarten wird in Indien nicht nur Cricket und Badminton gespielt, sondern auch Fussball (fast wie zu Hause in Bern, nur ein bisschen härter und nicht im schwarz-gelben Lieblingstrikot).
Mein Lieblingsort zum Durchschnaufen
Kristallklares Wasser, viel Grün, Schnorcheln im Korallenriff, Touren auf dem Scooter: Die Andamanen und Nikobaren sind ein Inselparadies in der Bucht von Bengalen, etwa 800 Kilometer vom Festland entfernt. Doch ein Teil des Paradieses ist bedroht: Auf den Grossen Nikobaren ganz im Süden will die Regierung rund eine Million Bäume roden – dort, wo noch ein unberührter Indigenen-Stamm lebt. Hier sollen ein Containerhafen, ein Flughafen, ein Kraftwerk und eine Stadt entstehen. Die ganze Insel ist inzwischen abgeriegelt, nicht nur für Journalistinnen und Journalisten. Niemand soll sich den strategisch wichtigen Plänen in den Weg stellen.
Audios zu den erwähnten Themen
Mein Lieblingsbeitrag ...
… erzählt von zwei Rapper-Geschwistern aus dem Südosten Pakistans. Die Gegend ist ländlich, arm und konservativ. Schon der Vater der Rapper eckte an, weil er seine vier Töchter zur Schule schickte. Als er eine von ihnen auch noch Motorrad fahren liess, erhielt er Morddrohungen. Er liess sich aber nicht unterkriegen und gründete kurzerhand ein neues Dorf, ein paar hundert Meter weiter. Nur deshalb können beide Geschwister heute ungestört gegen die konservative Gesellschaft «an-rappen»: gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen, Ehrenmorde, verschleppte Menschen und Polizeigewalt. «Revolution» heisst ihr bekanntester Titel, mit dem sie schon bei Festivals in grösseren Städten aufgetreten sind. Sie träumen von einem besseren Land und einer Profi-Karriere. Ein Lichtblick in einem Land, das von Militärherrschaft, Korruption und Wirtschaftskrise geprägt ist.
Redaktion: Jeanette Geiger