Zum Inhalt springen

Diabetes-Medikament «Ozempic» «Abnehmwunder?» Der heikle Trend um ein Medikament

In den sozialen Medien wird das Medikament Ozempic als Abnehmwunder angepriesen. Wie die Spritze einer jungen Frau das Vertrauen in ihren Körper zurückgab – und Experten vor dem Hype warnen.

Mehr als 990 Millionen Views auf Tiktok: Wovon viele Influencerinnen nur träumen, hat das Medikament Ozempic geschafft. Die kleine Spritze wird in den sozialen Medien seit Monaten gefeiert, in Videos begeistert als «Abnehmwunder» in die Kamera gehalten.

Auch Tesla-Gründer Elon Musk schreibt Ozempic seinen Gewichtsverlust zu und Insta-Queen Kim Kardashian soll die Spritze gar zu Kleidergrösse 32 verholfen haben.

Ja, das Versprechen klingt allzu verlockend: Einmal wöchentlich spritzen und schon schmelzen die Kilos wie von selbst. Nur: Ozempic ist kein Lifestyle-Produkt. Es ist ein Diabetes-Arzneimittel.

Wie Ozempic wirkt

Der Wirkstoff in Ozempic – Semaglutid – ist ein sogenannter GLP-1-Rezeptoragonist. Diese Arzneistoffe gelten in der Diabetes- und Adipositas-Forschung seit einigen Jahren als «Game Changer»: GLP-1-Analoga ahmen nämlich die Wirkung eines körpereigenen Hormons namens GLP-1 nach – was dafür sorgt, dass die Bauchspeicheldrüse nach der Nahrungsaufnahme Insulin freisetzt. Dadurch wird mehr Zucker aus dem Blut in die Zellen aufgenommen.

Die Medikamente senken den Blutzuckerspiegel auf die gleiche Weise. Gleichzeitig hemmen sie den Appetit und sorgen dafür, dass sich der Magen langsamer entleert, was Diabetikerinnen und Diabetikern beim Abnehmen zugutekommt. In der Schweiz ist Ozempic bislang nur bei übergewichtigen Menschen mit nicht optimal eingestelltem Diabetes Mellitus Typ 2 zugelassen – zusätzlich zu einer angepassten Ernährung. Ozempic allein kann bei Patienten angewendet werden, die Metformin (ein anderes Diabetes-Medikament) nicht vertragen.

Diabetes Typ 1 und 2 in Kürze

Box aufklappen Box zuklappen
  • Der Diabetes Typ 1 wurde früher auch als insulinabhängiger Diabetes oder juveniler Diabetes bezeichnet und ist eine Autoimmunerkrankung. Sie entsteht, wenn die Betazellen der Bauchspeicheldrüse, die Insulin für die Regulierung des Blutzuckers herstellen, vom Immunsystem zerstört werden.
    Der Typ-1-Diabetes tritt häufiger bei Kindern und jungen Erwachsenen auf, kann aber Personen in jedem Lebensalter treffen.
  • Diabetes Typ 2 war lange als nicht-insulinabhängiger Diabetes oder Altersdiabetes bekannt. Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes produziert die Bauchspeicheldrüse zwar weiterhin Insulin, allerdings nicht genug – oder der Körper kann es nicht mehr wirksam verwenden, um Blutzucker in Energie umzuwandeln.

Tatsächlich können seine Eigenschaften aber auch Menschen ohne Diabetes beim Abnehmen helfen – und das haben hierzulande mittlerweile einige mitbekommen: «Es kommen viele Menschen in unsere Übergewichtssprechstunde, die das ‹Wundermittel› fordern», so David Infanger vom Stoffwechselzentrum Hirslanden.

Diese Wirkstoffe sind kein Wundermittel – sondern eine Ergänzung zu Diät- und Bewegungsprogrammen.
Autor: David Infanger Facharzt am Stoffwechselzentrum Hirslanden

Er verschreibe das Medikament allerdings nur sehr zurückhaltend, da es sich bei Ozempic um ein sogenanntes Off-Label-Medikament handle. Ein Medikament, das noch nicht offiziell für übergewichtige Menschen zugelassen ist.

Bei zwei weiteren GLP-1-Analogica sieht die Sache anders aus. Saxenda und Wegovy sind in der Schweiz für die Behandlung von Adipositas freigegeben: Die verschreibungspflichtigen Medikamente werden ab einem BMI von 30 eingesetzt oder bei Übergewichtigen ab einem BMI von 27, die zusätzlich an einer Begleiterkrankung wie Bluthochdruck oder einer Fettstoffwechselstörung leiden. «Aber auch diese Wirkstoffe sind nur eine Ergänzung zum Diät- und Bewegungsprogramm», so der Experte weiter.

Studie im Auftrag des Herstellers

Ozempic wird wöchentlich und in steigenden Dosen verabreicht. Tatsächlich zeigt es in Studien, wie auch das höher dosierte Medikament Wegovy, solide Ergebnisse: Übergewichtige Nicht-Diabetes-Patientinnen verlieren damit nach 68 Wochen 14.9 Prozent ihres Gewichts, im Vergleich zu Placebo-Einnahmen, bei denen es nur 2.4 Prozent sind.

Und dennoch: Die Studie mit den eindrücklichsten Ergebnissen wurde vom Hersteller des Medikaments selbst in Auftrag gegeben – was wohl die wenigsten wissen, wenn sie sich hoffnungsvoll an ihre Ärztinnen und Ärzten wenden.

Diabetes in der Schweiz

Box aufklappen Box zuklappen

In der Schweiz sind rund 500'000 Personen an Diabetes erkrankt. Davon etwa 40'000 Personen mit einem Typ-1-Diabetes. Weltweit sind es rund 425 Millionen Menschen. Im Durchschnitt dauert es sieben Jahre dauert, bis Diabetes Typ 2 entdeckt wird. Diabetes Schweiz geht davon aus, dass die Hälfte aller Diabetesbetroffenen noch gar nicht weiss, dass sie an Diabetes erkrankt sind.

Auch die 33-jährige Sandra* kam mit hohen Erwartungen in die Übergewichtssprechstunde: Mit einem BMI von über 30 war sie gemäss WHO-Definition adipös – obwohl sie sich seit ihrem 14. Lebensjahr, dem Zeitpunkt ihrer ersten Ernährungsberatung, «nur von Salat und Reiswaffeln ernährt». Zusätzlich: ein straffes Sportprogramm, das sie beinahe täglich durchzog. Ohne Erfolg. «Wenn ich fünf Kilo abnahm, waren kurze Zeit später acht Kilo drauf.»

Seit ich denken kann, habe ich Angst vor Pasta, Reis und Brot – und davor, immer noch mehr zuzunehmen.
Autor: Sandra*

Mit den Jahren verlor Sandra das Vertrauen in ihren Körper. «Seit ich denken kann, habe ich Angst vor Pasta, Reis und Brot. Angst vor einem gemeinsamen Znacht mit Freunden, bei dem ich keinen Überblick über die Kalorien habe. Angst davor, immer noch mehr zuzunehmen, obwohl ich immer weniger esse.» Ihre letzte Hoffnung: Ozempic.

Unser Steinzeithirn will Maximalgewicht erreichen

Viele Leute, die zu David Infanger in die Übergewichts-Sprechstunde kommen, geht es ähnlich. «Sie hangeln sich von Jojo-Effekt zu Jojo-Effekt.» Auch dann sei es wichtig, die hohen Erwartungen zu entschärfen und klarzustellen, dass Ozempic nur eine Hilfestellung leiste. Die Diät- und die Bewegungsroutine müssen lebenslang fortgeführt werden.

Der Grund für diese lebenslange Aufgabe ist unser Steinzeithirn, das unseren Körper immer wieder zum Maximalgewicht führen will. Für jedes Kilo, das wir abnehmen, leitet es Gegenmassnahmen ein: Es macht uns hungriger, verzögert das Sättigungsgefühl und korrigiert den Energieverbrauch, unseren Grundumsatz, nach unten. Was fies klingt, ist ein Überlebensmechanismus aus früheren Zeiten. Er wurde bloss noch nicht auf das aktuelle Betriebssystem namens «Nahrung-im-Überfluss-und-zu-wenig-Bewegung-2023» eingestellt.

Eine lebenslange Therapie

Für Patientinnen wie Sandra bedeutet dieses Betriebssystem eine lebenslange Therapie, in der auch Ozempic immer wieder zum Einsatz kommen kann: «Beim ersten Termin sagte die Ärztin zu mir, dass wir uns von nun an ein Leben lang sehen werden.» Die Therapie ist nämlich alles andere als ein Quick-Fix. Sie beinhaltet auch Gespräche und physische Abklärungen. Für Sandra ist sie «ein bisschen wie Psychotherapie.»

Ich lerne allmählich, Pasta als normales Essen und nicht als Todsünde zu betrachten.
Autor: Sandra*

Momentan ist die 33-Jährige alle sechs Wochen dort: Wiegen, Anpassen der Medi-Dosis, Check-up. Erst wenn sie das gemeinsam mit der Ärztin bestimmte Zielgewicht ein Jahr lang halten kann, können die Spritzen ausgeschlichen werden. «Aber sobald mein Gewicht wieder deutlich steigt, geht es von vorne los.»

Mehr als Gewichtsverlust

Acht Kilo hat Sandra seit vergangenem November abgenommen. In den ersten Wochen war ihr oft übel, sie hatte Kreislaufprobleme – auch das gehöre dazu, meint sie. Ob sie die Aussicht auf weitere 60 Jahre mit der Spritze nicht beängstigend findet? «Minimal. Ozempic und die Therapie, die dazu gehört, sorgen für mehr als bloss Gewichtsverlust.»

Seit sie die Spritzen bekommt, lerne sie allmählich, ihrem Bauch und Kopf wieder zu vertrauen. «Ich spüre wieder, wann ich wirklich hungrig bin und wann nicht. Und ich lerne allmählich, Pasta als normales Essen und nicht als Todsünde zu betrachten.»

Tatsächlich scheint die potenziell lebenslange Bindung auch andere nicht zu stören. In den USA hat der Hype um das Medikament jedenfalls einen Medikamentenengpass ausgelöst, wie der Hersteller Novo Nordisk Ende vergangenen Jahres in einer Pressemitteilung mitteilte.

Medikamentenengpass auch in der Schweiz

Auch in der Schweiz ist das so: «Lieferengpässe kennen wir auch. In den letzten Monaten konnten die Mengen, die wir bestellt haben, nicht geliefert werden. Wir hatten Probleme, unsere Diabetikerinnen mit Medikamenten zu versorgen.» Die dunkle und grosse Schattenseite des Hypes.

Wir müssen seit Monaten in die 65 Kilometer entfernte Apotheke fahren, um das für meine Frau überlebenswichtige Medikament zu besorgen.
Autor: «Aeschbi» SRF3-Hörer

Auch SRF3-Hörer «Aeschbi» kennt sie. Er meldete sich, als er von dieser Recherche erfuhr. Seine Frau ist auf das Medikament angewiesen. «Wir müssen seit Monaten in die 65 Kilometer entfernte Apotheke fahren, um das für meine Frau überlebenswichtige Medikament zu besorgen.» Dass es Menschen gibt, die ihr Optimalgewicht über das Leben anderer stellten, könne er nicht verstehen.

Und Sandra? «Natürlich will ich nicht, dass andere meinetwegen keine Medikamente haben. Aber ehrlich gesagt, finde ich, die Verantwortung liegt vor allem bei den Promis und den Ärztinnen und Ärzten, die die Arznei offensichtlich leichtfertig verschreiben. Sonst würde es zu keinen Engpässen kommen.»

Übergewicht in der Schweiz steigt

Laut Infanger soll Ozempic im Laufe des Jahres auch in der Schweiz als reines Übergewichtsmedikament auf den Markt kommen – und dürfte auch weiterhin auf Abnehmerinnen und Abnehmer treffen: Gemäss schweizerischen Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik (BfS) ist die Anzahl der übergewichtigen Menschen zwischen 1992 und 2017 von 30 auf 42 Prozent gestiegen.

Laut der World Obesity Federation wird bis 2035 mehr als die Hälfte der Menschen auf der Erde übergewichtig oder fettleibig sein. Damit steigt auch die Zahl der mit Übergewicht einhergehenden Folgeerkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Diabetes.

«Viele setzen Übergewicht mit einem Lifestyle-Fehler gleich. Aber das stimmt so nicht. Adipositas ist auch eine chronische Krankheit mit genetischen Komponenten», so der Stoffwechselexperte Infanger. Und genau für diese kranken Menschen sind Medikamente wie Ozempic gedacht.

Wenn Kim Kardashian oder Elon Musk abnehmen, liegt das an einer Rundum-Betreuung, die wenig mit der Realität einer Person zu tun hat, die ihre erschlankten Körper in den sozialen Medien sieht. Für Personal Trainer, Köche, Physiotherapeuten – und ein paar Spritzen – bezahlen diese Promis viel Geld. Auch Diabetikerinnen und Diabetiker zahlen für den Hype – und zwar mit ihrer Gesundheit.

Aktuelle Studien zu Ozempic und Diabetes

Box aufklappen Box zuklappen

Eine Studie der University of Leicester zeigt, dass Ozempic den Blutzuckerspiegel senken kann und das Risiko für Folgeerkrankungen bei Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes verringert. In fünf Studien mit mehr als 4000 Patienten wurde gezeigt, dass Ozempic den HbA1c-Spiegel (ein Messwert des Blutzuckers) im Laufe von 10 bis 13 Monaten um 1,2 bis 1,8 Prozentpunkte senkte.

In diesen Studien schnitt Ozempic besser ab als die Wirkstoffe mit Sitagliptin, Exenatid und Insulin glargin (die Senkungen um jeweils 0,55, 0,92 und 0,83 Prozentpunkte bewirkten) und Placebo (Verringerung bis zu 0,09 Prozentpunkte). Ausserdem bemerkten die Forschenden, dass die Behandlung mit Ozempic das Körpergewicht verringerte. Diese Studie erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Hersteller Novo Nordisk.

In einer weiteren Studie mit über 3000 Diabetes-Patientinnen und Patienten mit hohem Risiko einer Herzerkrankung zeigten kanadische Forschende, dass Herzinfarkt, Schlaganfall oder Tod insgesamt weniger häufig bei Patienten, die mit Ozempic behandelt worden waren, auftraten (6,6 %) als bei Placebo-Patienten (8,9 %).

SRF 3, 17.03.2023, 14:10 Uhr

Meistgelesene Artikel