«Wenn Sie meine Wohnung betreten wollen, müssten sie sich vorher duschen, und anschliessend würde ich ihnen neue Kleider zum Anziehen geben», sagt Léonie zum Kamerateam.
Léonie leidet unter einem unbändigen Drang nach perfekter Sauberkeit. Ausser ihrem Partner und ihrem Sohn darf niemand die Wohnung betreten, zu gross ist ihre Angst vor Schmutz und Keimen. Wegen ihrer Zwangsstörung muss das Kamerateam schlussendlich draussen bleiben und darf nur von der Terrasse her durch die Fenster filmen.
Léonie verbringt täglich zwischen acht und 16 Stunden damit, ihre Wohnung zu putzen. Dabei ist sie sich der Absurdität der Situation durchaus bewusst: «Mich schmerzt am meisten, dass ich Stunden damit verbringe, Sachen zu putzen, von denen ich weiss, dass sie sauber sind – und ich muss es trotzdem tun. Der Drang ist stärker.»
Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
Schätzungen zufolge leiden etwa 150'000 Personen in der Schweiz an einer behandlungsbedürftigen Zwangsstörung. Zu den häufigsten gehören der Wasch- und Putzzwang aus Angst vor Verschmutzung oder Ansteckung. Bei den Kontrollzwängen geht es darum, ein vermeintliches Unglück zu verhindern oder etwas ganz perfekt zu machen. Weitere Zwänge sind Zählzwänge sowie der Drang nach Ordnung und Symmetrie.
Auslöser Zwangsgedanken
Zwangsstörungen fussen darauf, dass die Betroffenen gewisse automatisch auftretende Gedanken als katastrophal einstufen. So kann zum Beispiel der Gedanke, sich beim Berühren einer Türklinke verschmutzt zu haben, zum Zwangsgedanken werden.
Um das Unbehagen, das durch die Zwangsgedanken entsteht, zu lindern, wiederholen Betroffene häufig bestimmte Verhaltensweisen oder Rituale wie übermässiges Händewaschen. Dies führt zu einer kurzfristigen Erleichterung, verstärkt jedoch langfristig den Zwang.
Die verfluchte Zahl Drei
Was es bedeutet, mit einer Zwangsstörung zu leben, zeigt auch das Beispiel von Joël. Der junge Mann führt dank intensiver Therapie heute ein fast normales Leben. Bereits als Kind entwickelte er erste Zwangsstörungen, wie den Drang ständig Dinge zählen zu müssen, die Angst sich mit Keimen zu infizieren oder den Zwang Kontrollrituale ausführen zu müssen.
Diese Zwänge wurden mit den Jahren immer stärker und absurder, als sogenannte «magische» Gedanken dazukamen. So empfand Joël die Zahl Drei als eine verfluchte Zahl. Beim Einkaufen musste er deshalb ständig Artikel zählen.
Er konnte keine Produkte auswählen, die im dritten Regal, der dritten Reihe oder an dritter Stelle eingeräumt waren. Zudem kam für ihn jeweils auch die vorderste Packung nicht infrage, da diese möglicherweise bereits von vielen Menschen berührt wurde und ihm entsprechend schmutzig erschien. «Ich kaufte nicht, was ich wollte, sondern was ich konnte», erinnert er sich an die Zeit vor der Therapie.
Konfrontation mit den Zwängen
Seit Joël sich einer kognitiven Verhaltenstherapie unterzieht, haben sich seine Zwänge abgeschwächt. Bei dieser Therapieform muss er sich seinen Ängsten stellen, sich also Situationen aussetzen, die er ansonsten vermeidet, weil sie bei ihm Angst auslösen. So muss er unter Anleitung seiner Therapeutin einen Apfelkuchen zubereiten, ohne dass er immer wieder seine Hände und die Küchenutensilien wäscht.
Dies ist für Joël eine grosse Herausforderung, denn er verspürt ständig den Drang seine Hände waschen zu müssen. Er befürchtet, dass er sonst die Äpfel beschmutzt, wenn er sie anfasst: «Dieses Unbehagen spüre ich auch körperlich, mein Magen zieht sich zusammen, das Herz schlägt schneller und ich beginne dann häufig zu schwitzen», erklärt er.
Je häufiger ich mich meinen Ängsten stelle, desto mehr Vertrauen gewinne ich und die Zwänge nehmen ab.
In der Therapie lernt er nun, dass er diesen Zwangsgedanken nicht Folge leisten muss, dass er die Ängste aushalten und die Risiken wieder realistischer einschätzen kann. Und die Therapie zeigt auch bei Joël Wirkung: «Je häufiger ich mich meinen Ängsten stelle, desto mehr Vertrauen gewinne ich und die Zwänge nehmen ab.»
Studien zeigen, dass sich durch eine kognitive Verhaltenstherapie die Zwänge bei bis zu 70 Prozent der Patienten abschwächen. Christine Poppe, leitende Ärztin der Psychiatrie St. Gallen und Co-Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen, betont: «Diese Effekte halten auch Jahre über das Therapieende an und verbessern sich teilweise im längerfristigen Verlauf sogar noch.»
Auch andere psychotherapeutische Massnahmen können helfen. Unterstützende Medikamente sind nur sinnvoll, wenn gleichzeitig eine Depression vorliegt oder zur Überbrückung der Wartezeit, bis ein Therapieplatz verfügbar ist.
Eingriff im Hirn als letzten Ausweg
Auch Léonie, die unter dem unbändigen Drang nach Sauberkeit leidet, hat sich einer kognitiven Verhaltenstherapie unterzogen, jedoch ohne Erfolg: «Ich machte mehrere Psychotherapien, ich versuchte komplementärmedizinische Therapien wie Hypnose oder Magnetismus und nahm verschiedene Antidepressiva, doch nichts zeigte eine Wirkung.»
Ihr letzter Ausweg ist ein Eingriff im Hirn. Bei der tiefen Hirnstimulation werden feinste Elektroden ins Hirn implantiert. Diese Technik kommt normalerweise bei Parkinson-Patienten zum Einsatz .
Erste Studien zeigen nun, dass dieser Eingriff auch bei Zwangsstörungen helfen kann. Dabei werden die Elektroden tief im Hirn, unter anderem beim sogenannten subthalamischen Kern, platziert. Hochfrequente elektrische Impulse beeinflussen dann die benachbarten Nervenzellen und helfen so mit, bei rund der Hälfte der Betroffenen die Zwangssymptome zu verbessern.
«Wir müssen jedoch bescheiden bleiben, denn wir verstehen noch wenig über die genaue Wirkweise», erklärt Joao Flores Alves Dos Santos, Psychiater am Universitätsspital Genf. Léonie sieht in diesem Eingriff trotzdem ihre letzte Chance: «Ich fürchte mich nicht vor dem Eingriff, sondern davor, dass die Operation bei mir nicht wirkt.»
Ich fürchte mich nicht vor dem Eingriff, sondern davor, dass die Operation bei mir nicht wirkt.
Dass wie bei Léonie trotz der klassischen Therapien keine ausreichende Besserung erzielt werden kann, kommt bei rund jeder fünften betroffenen Person vor. Doch noch sind Hirnstimulationen bei Zwangsstörungen wenig erforscht.
Ein solcher Eingriff sollte gut überlegt sein, betont Christine Poppe: «Zuerst muss überprüft werden, ob die Therapien regelgerecht durchgeführt wurden und ob zusätzliche psychische Probleme die Behandlung der Zwangsstörung behindern und zunächst angegangen werden müssten.» Nicht zuletzt kann eine Zwangsstörung auch eine Funktion im Alltag und in Beziehungen einnehmen, «sodass es sich lohnt, ganz genau hinzuschauen, was da eigentlich los ist».