Ich stehe vor der 20 Meter hohen Kletterwand, über mir ein Überhang – und ich habe die Hosen gestrichen voll.
Seit jeher macht mir die Höhe Probleme. Mein Herz rast und ich habe schweissnasse Hände. Beobachten wird mich heute der Mentalcoach Heinz Müller.
Horrorkino im Kopf
Den Überhang habe ich noch nicht mal erreicht, da fangen meine Armmuskeln schon an zu brennen. Und mit der schwindenden Kraft kommt die Angst. Horrorszenarien schiessen mir durch den Kopf: Was, wenn ich abrutsche, unkontrolliert ins Seil falle?
Ich fluche. Ein typisches Signal, dass Stress und Angst übernommen haben. Ich hänge ins Seil, um etwas auszuruhen. Aber ich versuche es noch einmal. Und noch einmal. Beim dritten Anlauf gebe ich auf: Die Arme brennen, die Beine zittern, mein Hirn schreit: «Aufhören!»
Die Mentalstrategie
Unten empfängt mich Heinz Müller. Sein erster Tipp: Die Kunst sei, das Hirn so stark zu machen, dass auch die Muskeln länger durchhalten. Also mental über den Punkt hinausgehen zu können, wo das Hirn eigentlich «Stopp» sagt.
Er schlägt mir autosuggestive Visualisierung vor: Ich soll die Route drei- bis viermal pro Woche im Kopf klettern. Vor allem gehe es darum, die «Power-Vertrauens-Stimme», wie er sie nennt, lauter zu drehen.
Motivationssätze als Schlüssel
Um das Volumen dieser zuversichtlichen Stimme hochzuschrauben, erarbeiten wir zusammen sieben Motivationssätze. (siehe Box)
«Schnuufe!»
In einer Audiodatei führt mich der Coach nachher geistig die Kletterwand hoch. Auch die Motiviationssätze sind integriert. Es geht dabei auch darum, die Atmung zu verbessern. Denn Kurzatmigkeit bedeutet weniger Sauerstoff und damit schnellere Ermüdung der Muskulatur.
Bei den ersten Versuchen kriege ich nur schon bei der Vorstellung in die Wand zu steigen wieder schwitzige Hände. Als wäre ich tatsächlich da oben. Der französische Neurowissenschaftler Aymeric Guillot hat das untersucht und sagt: «Die neuronalen Vorgänge sind quasi dieselben, egal ob ich mir eine Bewegung vorstelle, sie tatsächlich ausführe, oder sie nur beobachte.»
Der zweite Versuch
Nach drei Wochen Mentaltraining stehe ich wieder vor dem 20-Meter-Ungetüm. Ohne schwitzige Hände. Ich merke: Im Kopf hat sich etwas getan.
Ich steige in die Wand. Im ersten Überhang kommt eine Schlüsselstelle. Ich klettere sie falsch an. Muss zurück und dann nach links ausweichen. Das kostet Kraft und die Angst blitzt auf. Aber ich bin vorbereitet: Gecko-Power! Ruhe! Atmen! Ich bin geistig voller Zuversicht – und packe den Überhang.
Die Kraft lässt nach
Doch dann beginnen die Arme zu brennen. Ich hänge ins Seil. Arme ausschütteln. Fokussieren. Nach einer 2-minütigen Pause klettere ich weiter.
Die brennenden Arme bleiben, aber ich konzentriere mich aufs Ziel und auf mein Mantra: «Ich habe noch Kraft. Ich schaffe es! Gecko-Power!»
Die letzten acht Meter steige ich durch. Unglaublich! Dank der Fokussierung kam die Negativ-Spirale gar nicht erst ins Drehen. Die Macht der Gedanken hat mich bis ganz nach oben gebracht!