Die Erwartungen an die Weihnachtszeit sind hoch: Wunderbar entschleunigend sollen die Festtage sein, im besten Fall magisch. Doch was brauchts, damit es auch wirklich so kommt? Psychologin Stephanie Karrer ordnet ein.
SRF Wissen: Stephanie Karrer, wieso vergeht die Zeit «zwischen den Jahren» so viel langsamer?
Stephanie Karrer: Weil die Struktur, die wir kennen, wegfällt – zumindest wenn wir über die Festtage Ferien haben. Unser Alltag ist bestimmt von Terminen und Auf-die-Uhr-schauen. Wenn Zeit aber keinen klaren Rahmen mehr hat, kann es sich anfühlen, als hätten wir mehr davon. Die Tage fliessen ineinander, die Zeit steht gewissermassen still.
Empfinden diese Entschleunigung alle Menschen als angenehm?
Nein, das ist Typsache. Für strukturliebende Menschen kann es herausfordernd sein, viel Gestaltungsraum zu haben. Auch für Leute, die bis Heiligabend durchhetzen und dann auf Knopfdruck besinnlich und entspannt unter dem Tannenbaum sitzen möchten, könnte die Weihnachtszeit schwierig werden.
Warum?
Das Stresshormon Cortisol braucht Zeit, um sich abzubauen. Wenn der Stresspegel im Körper hoch ist, der Alltag mit seinen Aufgaben aber plötzlich wegfällt, reagieren viele gereizt und unruhig. Wenn möglich, im Dezember bewusst das Tempo drosseln und eine Abschlussphase gestalten: An welchem Tag möchte ich welche Aufgabe abgeschlossen haben – und was kann bis zum nächsten Jahr warten?
Sonst ist auch das Risiko, über die Festtage flachzuliegen, höher: Unter Stress performt das Immunsystem sozusagen über – sobald das Cortisol abfällt, werden wir eher krank.
Was braucht es noch, damit sich die Magie der Festtage entfalten kann?
Wenn eine Person ein schwieriges familiäres Umfeld hat, zuhause Gewalt erfährt, finanzielle Sorgen hat oder sich einsam fühlt, ist Weihnachten oftmals gar keine magische Zeit – egal was die Werbung oder Popkultur sagt. Es braucht gewisse psychosoziale Voraussetzungen. Und selbst wenn die gegeben sind, ist Magie nichts, was einfach entsteht. Wir müssen sie aktiv herstellen.
Wie gelingt das?
Es braucht eine gewisse Kompetenz zur Erholung. Damit meine ich eine gute Kenntnis über sich selbst: Was tut mir gut, wie entspanne ich am besten? Das ist sehr individuell – und in der Weihnachtszeit nicht plötzlich anders.
Zu hohe Erwartungen sind garantierte Stimmungskiller. Es braucht nicht den perfekten Adventskalender, das perfekte Silvestermenü, die perfekte Deko.
Ein Beispiel: Wenn ich Joggen liebe und viel Zeit für mich brauche, ist es unwahrscheinlich, dass es mir blendend geht, wenn ich tagelang mit Besuch auf dem Sofa sitze. Noch etwas ist entscheidend: Es braucht eine Reduktion an kognitiver Last.
Was meinen Sie damit?
Wer sich unter Hochdruck auf eine Prüfung vorbereiten muss, wird die Festtage vermutlich nicht als besinnlich empfinden – da ist zu viel los im Kopf.
Das ist auch der Fall, wenn der Mental Load hoch ist – also die unzähligen Gedanken, was alles noch erledigt werden muss. Frauen, insbesondere Mütter, tragen in unserer Gesellschaft den Grossteil dieser unsichtbaren Arbeit. Wenn schon das ganze Jahr über ein Ungleichgewicht in der Rollenverteilung besteht, dann akzentuiert sich das im Dezember. Oft sorgt das bei hetero Paaren für Streit.
Haben Sie einen Tipp, wie man vorbeugen könnte?
Sich vorher besprechen und Aufgaben verteilen. Und: Damit leben, dass ein Geschenk nicht so eingepackt ist, wie ich es selbst gemacht hätte.
Zu hohe Erwartungen sind garantierte Stimmungskiller. Es braucht nicht den perfekten Adventskalender, das perfekte Silvestermenü, die perfekte Deko. Ich empfehle eine «Gut genug»-Haltung: Mut zum Durchschnitt, ein Vierer reicht!
Das Gespräch führte Marie Hettich.