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Nahostkonflikt: Woher kommt der Einfluss religiöser Extremisten?
Aus Perspektiven vom 21.10.2023. Bild: shutterstock/Framalicious
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Eskalation im Nahen Osten So beeinflussen religiöse Fundamentalisten den Nahostkonflikt

Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel eskaliert die Gewalt im Nahen Osten. Doch nicht nur auf Seiten der Palästinenser haben religiöse Fundamentalisten viel Einfluss, sondern auch in Israel. SRF-Religionsredaktorin Nicole Freudiger erläutert, wie es dazu kommen konnte.

Nicole Freudiger

Nicole Freudiger

Religionsredaktorin

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Nicole Freudiger ist Religionsredaktorin bei SRF Kultur. Zuvor war sie Redaktorin beim Regionaljournal Zürich Schaffhausen.

Wer sind die religiösen Fundamentalisten im Nahostkonflikt?

Auf palästinensischer Seite ist dies vor allem die nationalistisch-islamistische Terrororganisation Hamas. Sie wurde 1987 als Ableger der Muslimbruderschaft gegründet. Für die Hamas ist Palästina ein islamischer «waqf» – ein Land, das für Musliminnen und Muslime reserviert ist und von ihnen bis zum Ende der Zeit bewohnt werden muss. Die Hamas bestreitet daher auch das Existenzrecht Israels. Sie hat sich dem gewaltsamen Dschihad verschrieben und unzählige Anschläge verübt, meist gezielt gegen israelische Zivilistinnen und Zivilisten.

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Kein Ende der Eskalation im Nahen Osten
Aus Rundschau vom 11.10.2023.
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Auf israelischer Seite gibt es zwei Gruppierungen, die eine radikal religiöse Haltung vertreten und diese auch in die Politik einbringen: Die Nationalreligiösen und die Ultraorthodoxen.

Wie beeinflusst Religion die politische Haltung der Ultraorthodoxen und Nationalreligiösen?

Die Ultraorthodoxen leben streng nach religiösen Gesetzen und lehnen den israelischen Staat theoretisch ab. Sie haben aber eingesehen, dass sie sich politisch engagieren müssen, um ihren Lebensstil und ihre Privilegien wie zum Beispiel die Befreiung vom Wehrdienst zu erhalten. Deshalb setzen sie sich dafür ein, religiöse Regeln durchzusetzen und liberale Gesetze zu verhindern: Etwa, dass die Ladenöffnungszeiten am Schabbat liberalisiert werden. Oder sie wollen mehr Orte schaffen, an denen Geschlechtertrennung möglich ist.

Die Nationalreligiösen haben den Siedlungsbau im besetzten Westjordanland in den letzten Jahren vorangetrieben – mit religiösen Argumenten: Sie erheben Anspruch auf das ganze von Gott in der Bibel «verheissene Land», ohne Rücksicht auf die Palästinenserinnen und Palästinenser, denen das Westjordanland sowohl im UN-Teilungsplan von 1947 als auch in den Osloer Friedensverträgen von 1993 zugesprochen wurde.

Welchen Einfluss haben religiöse Fundamentalisten auf Seiten von Israel?

Die Ultraorthodoxen und die Nationalreligiösen sind in Israel zwar eine Minderheit, haben jedoch im politischen System viel Einfluss, weil sie bei Koalitionen oft das «Zünglein an der Waage» spielen. So waren etwa die Ultraorthodoxen seit 1990 nur fünf Jahre nicht in der Regierungskoalition.

Die Parteien der Ultraorthodoxen und erstmals auch jene der Nationalreligiösen sind beide Teil der aktuellen Regierung, der «rechtesten und religiösesten Regierung, die in Israel je am Ruder war», wie «Die Welt» schreibt. Die Regierung hat das Land tief gespalten und in den letzten Monaten eine Welle von Protesten ausgelöst. Dabei ging es neben der Justizreform auch um die Identität Israels als «jüdischer und demokratischer Staat», um die Frage, wie religiös oder liberal Israel sein soll.

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Justizreform in Israel: Erneut Massenproteste in mehreren Städten
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Einige Stimmen meinen sogar, der Kulturkampf der vergangenen Monate habe dazu geführt, dass Israel vom Überfall der Hamas überrascht wurde. Religionswissenschaftler Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter in Baden-Württemberg, führt aus: «Die Israeli fragen sich: Wie kann es sein, dass die Nationalreligiösen die Armee ins Westjordanland geschickt haben, um Siedlungen zu verteidigen oder auszubauen und damit den Süden schutzlos preisgegeben haben?»

Wann begann der Aufstieg der religiösen Fundamentalisten in Israel?

Das entscheidende Jahr war 1967, als Ägypten, Syrien und Jordanien gemeinsam Israel angriffen. Trotz militärischer Übermacht der arabischen Staaten siegte Israel in nur sechs Tagen. «Der Krieg hatte fast eine apokalyptische Dimension für Israel», erklärt Historiker Hans-Lukas Kieser, Titularprofessor an den Universitäten Zürich und Newcastle, Australien. «Die Angst war gross, dass Israel vernichtet würde, dass eine zweite Shoah geschehen würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Ein riesiger Triumph – doch kein besonnener Plan, wie damit umzugehen sei.»

Der Triumph wurde von den Nationalreligiösen als Zeichen Gottes gedeutet, als Bestätigung, dass sie das auserwählte Volk seien. Vor 1967 waren die nationalreligiöse Bewegung eher gemässigt. Danach und verstärkt in Folge des Jom Kippur-Kriegs 1973 wurde sie extremer und forcierte den Siedlungsbau in den besetzten Palästinensergebieten.

Welche Rolle spielte die Religion beim Aufstieg der Hamas?

Auch auf der arabisch-palästinensischen Seite war der Sechstagekrieg entscheidend. «Das militärische Versagen der arabischen Staaten hat den Ruf des säkularen arabischen Nationalismus schwer beschädigt und den Islamismus vitalisiert», erklärt Historiker Hans-Lukas Kieser. Die Wurzeln des Islamismus gehen zurück bis in die spätosmanische Zeit. In den 1920er-Jahren wurde der Islamismus dann in Ägypten mit der Gründung der Muslimbruderschaft belebt. Und spätestens seit 1979 ist der Islamismus eine ernste Konkurrenz für den säkularen arabischen Nationalismus. Denn die islamische Revolution im Iran zeigte, dass dieser Islamismus Erfolg haben und ein säkulares Regime vertreiben kann.

In den Palästinensergebieten spielte zudem die Korruption in den Reihen der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) und die Desillusionierung mit dem Friedensprozess der 1990er-Jahre eine Rolle. «Durch ihre knallharte Haltung überflügelte die Hamas die PLO an Glaubwürdigkeit und Attraktivität, insbesondere bei jüngeren Männern», sagt Hans-Lukas Kieser. Zudem habe die PLO ihre Versprechen nicht einhalten können, ergänzt Religionswissenschaftler Michael Blume: «Die PLO hatte versprochen: Wir werden den riesigen Abstand zum Westen in Sachen Bildung, freiheitliche Gesellschaft, Wohlstand überwinden. Wir werden ein Teil der Moderne.» Das habe aber nicht geklappt. «Dann kamen die Religiösen und sagten: Wir wollen nicht mehr nach vorne, wir wollen nicht in eine bessere, utopische Zukunft, sondern wir gehen zurück. Zurück zu den Wurzeln des Islams.»

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Die Muslimbrüderschaft und auch die Hamas hätten anfangs mit Sozialwerken gearbeitet, Brot verteilt, Krankenhäuser eröffnet und vieles mehr. Das habe zu einer breiten Unterstützung geführt, erklärt Michael Blume. Und so hat die Hamas 2006 die Wahlen gewonnen in den besetzten palästinensischen Gebieten – und ihre Macht dann im Gazastreifen in einem blutigen innerpalästinensischen Krieg gegen die PLO gefestigt. Heute kontrolliert die Hamas den Gazastreifen mit eiserner Hand.

Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 22.10.2023, 8:30 Uhr

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