Wer online unterwegs ist, stolpert täglich über Inhalte, die gezielt provozieren: Ein Post, der etwas Absurdes behauptet («Kinder sollen in der Schule jetzt Gendern lernen statt Rechnen!») oder ein Video, das etwas Haarsträubendes zeigt («Heute erkläre ich, wie man dank einem Energy Drink einen blauen Truthahn brät!»).
Oft steckt hier Kalkül dahinter. Denn bei solchen Inhalten gehen die Emotionen hoch – und mit ihnen die Lust, einen Post anzuklicken und zu kommentieren oder ein Video mit anderen zu teilen.
Und fast immer verdient jemand daran: Plattformen, die unsere Aufmerksamkeit verkaufen oder Akteure, die ihre Reichweite und politische Agenda maximieren wollen.
Soziale Medien als Brandbeschleuniger
«Rage Bait» nennt man die entsprechenden Inhalte – und die Oxford University Press hat den Begriff nun zum Wort des Jahres ernannt. Sie definiert ihn als «Online-Inhalte, die bewusst darauf ausgelegt sind, durch Frustration, Provokation oder Beleidigungen Ärger oder Empörung hervorzurufen, und in der Regel gepostet werden, um den Traffic auf einer bestimmten Webseite oder in sozialen Medien zu erhöhen oder die Interaktion mit diesen Inhalten zu steigern.»
Der Begriff «Rage Bait» tauchte 2002 zum ersten Mal im Internet auf. Damals bezeichnete er die Reaktion von Autofahrern, die sich absichtlich durch andere Fahrer provozieren liessen. Die Worte wurden zu Internet-Slang und bezogen sich bald auf die Online-Welt.
Im letzten Jahr habe sich der Gebrauch des Begriffs verdreifacht, schreibt die Oxford University Press. Das sei ein Zeichen, dass sich in der digitalen Kultur etwas Entscheidendes verschoben habe. Wo früher «Clickbait» unsere Neugier und unser Interesse an Informationen ausnutzte, würden heute unsere Emotionen manipuliert.
Soziale Medien funktionieren dabei als Brandbeschleuniger: Ihre Funktionsweise ist darauf ausgelegt, uns möglichst lange «engaged» zu halten.
Algorithmen beobachten, worauf wir reagieren – und Empörung wirkt nachweislich stärker und schneller als Interesse. Was uns in Rage versetzt, wird darum besonders prominent angezeigt und verbreitet. So binden uns Emotionale Inhalte länger an die Plattformen, die uns so länger Werbung anzeigen können. Und Rage-Bait-Inhalte sorgen auch dafür, dass wir immer wieder auf die Plattformen zurückkehren – in der Hoffnung, uns wieder herzhaft aufregen zu können.
«Rage Bait»: Popularität als Chance
Studien zeigen, dass wir im Zustand der Empörung Inhalte weniger kritisch prüfen und dadurch eher Falschinformationen teilen. Die Folgen: Diskurse werden zugespitzt und die Polarisierung wächst.
Denn Rage Bait lässt die Positionen der Gegenseite extremer erscheinen und wird so zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Je drastischer die Inszenierung, desto radikaler die Reaktionen. Andere wiederum verlieren ganz das Vertrauen in die Medien und wenden sich erschöpft vom öffentlichen Diskurs ab.
Doch die derzeitige Popularität des Begriffs biete auch eine Chance, hofft die Oxford University Press. Dass Rage Bait nun benannt und diskutiert werde, zeige nämlich ein wachsendes Bewusstsein für die dahinterstehenden manipulativen Mechanismen.
Je besser wir verstünden, dass wir gezielt in Rage versetzt werden, desto bewusster könnten wir reagieren: innehalten, bevor wir etwas blind teilen, Inhalte mit Hilfe unterschiedlicher Quellen prüfen und Algorithmen nicht bedingungslos folgen.