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Philosophisch durch den Alltag Was ist falsch an der Doppelmoral?

Wer Wein trinkt und Wasser predigt, wird mit Häme abgestraft. Nicht immer zurecht – wie ein genauer Blick zeigt.

Eine Klimaaktivistin wird am Flughafen gesichtet, wie sie bei einer Billigfluglinie für den All-Inclusive-Urlaub eincheckt. Einem Politiker, der die heile Familie und den Wert der Ehe preist, wird ein aussereheliches Kind zum Verhängnis.

Barbara Bleisch

Moderatorin und Philosophin

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Barbara Bleisch ist Philosophin und moderiert die «Sternstunde Philosophie». Daneben schreibt sie Bücher und unterrichtet Ethik.

Eine Wirtschaftsethikerin steht wegen Steuerbetrugs am Pranger. Werden solche Geschichten bekannt, ist der Spott meist gross: Wein trinken und Wasser predigen? Wer so etwas tut, hat seine Glaubwürdigkeit offensichtlich verspielt.

Wenn der Mentaltrainer mogelt

Doch stimmt das wirklich? Ein Glaubwürdigkeitsproblem hat sicher, wer mit der eigenen Person für den Erfolg seines Rezeptes bürgt, dieses aber nicht befolgt. Denken wir an einen Mentaltrainer, der in seiner Autobiografie erzählt, wie er dank seiner bahnbrechenden Entspannungsmethode mit vier Stunden Schlaf pro Nacht leistungsstark bleibt.

Stellt sich heraus, dass er selbst jede Nacht acht Stunden schläft, und zwar mit Hilfe von Schlafmitteln, ist sein Ruf zurecht ramponiert. Die Glaubwürdigkeit des Mentaltrainers hängt von seinem eigenen Verhalten ab, weil er sich selbst als Beleg ausgibt für die Wirksamkeit seiner Methode.

Serie: Philosophisch durch den Alltag

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Es ist komplizierter

Die Klimaaktivistin tritt jedoch mit dem eigenen Verhalten nicht den Beweis an für die Richtigkeit ihrer Theorie. Zwar verlangt sie, dass alle weniger fliegen und die Flugtickets höher besteuert werden, um einen Faktor der Klimaerwärmung zu limitieren. Doch ihre Forderung wird nicht falsch, wenn sie heimlich auf die Ferieninsel jettet.

Dasselbe gilt für den grossmäuligen Veganer: Er schwingt zwar Reden, dass die moderne Milchproduktion ein Verbrechen an den Tieren sei, trinkt seinen Cappuccino aber mit Kuhmilch, weil ihm Hafer- und Sojamilch nicht schmecken.

Lust auf lustig

Sowohl die Klimaaktivistin als auch der Veganer können mit ihren Anliegen durchaus richtig liegen, auch wenn sie ihr Handeln nicht immer danach ausrichten. Wer Wein trinkt und Wasser predigt, macht sich also nicht zwingend unglaubwürdig.  

Ganz im Gegenteil: Ist nicht zuweilen der kleine Makel grad sympathisch? Wissen wir doch alle: Der Geist ist zwar willig, das Fleisch hingegen schwach. Menschlichkeit geht einher mit Ambivalenzen, Launen und Lüsten. Wasser zu predigen, mag oft richtig sein. Lustiger ist es meist mit jenen, die auch mal ein Gläschen Wein stürzen.

Das Predigen ist das Problem

Das Problem am Wasser predigen ist für den Weintrinker also weniger, dass er zuweilen Fünfe grad sein lässt, wenn es ums eigene Verhalten geht. Das Problem dürfte eher das Predigen sein: Wer den Zeigefinger der Moral erhebt und anderen dauernd die Leviten liest, muss sich die Rückfrage gefallen lassen, was ihn eigentlich zu seinen Predigten berechtigt.

Die Regel, dass man erst vor der eigenen Tür zu wischen habe, bevor man auf den Dreck vor fremden Türen aufmerksam macht, ist jedenfalls keine schlechte. Wer andere zur Manier ruft, muss bereit sein, sich selber an dieser Manier messen zu lassen.

Der Mantel der Wahrheit

Predigen ist ausserdem generell keine besonders freundliche Art der Kommunikation. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat das treffend auf den Punkt gebracht: «Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann – nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.»

Die Klimaaktivistin und der Veganer würden wohl entgegnen, die Zeit der offenen Mäntel sei längst vorbei: Wer nicht hören wolle, müsse den nassen Lappen des knallharten Vorwurfs eben spüren. Dann allerdings müssen sie den vorwurfsvollen Lappen auch sich selbst um den Kopf schlagen, wenn sie für sich eine Ausnahme machen wollen.

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