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Philosophisch durch den Alltag Wie echt ist mein wahres Ich, und wie sehen das die Anderen?

«Sei authentisch!», lautet das Gebot der Stunde. Gar nicht so einfach, wenn man Authentizität philosophisch hinterfragt, findet unser Autor beim Einkaufen.

Einkaufen ist keine leichte Aufgabe. Denn der Blick ins Regal ist mit allerlei Imperativen verbunden. So handelt sich, wer unbedarft nach einer Packung Kaffee greift, mitunter die Aufforderung ein, durch den «authentischen Geschmack» ganz zu sich zu finden oder sich in einem Notizbuch «vollkommen zu entfalten».

Doch was, wenn einem bei all den Versprechen eines unverstellteren Selbstzugangs Zweifel kommen: Bin auch ich eine dieser verlorenen Seelen, die immer nach mehr und Besserem streben müssen? Reicht es nicht irgendwann einfach auch?

Dominik Erhard

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Dominik Erhard ist Philosoph, Journalist und Slam-Poet.

Ein Whiskey, eine Schlager-CD und ein Kunstmagazin

Eventuell fällt der Blick in einer solchen Situation an der Kasse auf den Einkauf des Vordermanns. Hier scheint nicht nach dem wirklichen Kern des eigenen Seins gefragt zu werden. Grauburgunder, Gelbwurst und Mischbrot zeugen von einem Leben, das womöglich ereignisarm, aber doch erfolgreich verläuft. Aber kann es das sein? Die eigene Existenz muss doch vertikal gespannt werden und sich nach Neuem recken.

Will man selbst also vielleicht doch nicht zu viel, sondern gibt der inneren Avantgardistenstimme sogar noch zu wenig Raum? Ein Blick auf das Band an der Nebenkasse liefert die Antwort. Hier reiht sich viel Interessantes aneinander, das allerdings erkenntlich im Rhythmus unsteter Tage konsumiert wird. Eine Flasche Whiskey, eine reduzierte Schlager-CD und ein Kunstmagazin. So geht es ja wohl auch nicht!

Selbstverwirklichung: ja, aber...

Eingespannt zwischen dem Drang nach sozialem Status und dem Willen zur radikalen Selbstentfaltung: Das ist die Situation, in der wir spätmodernen Subjekte uns dem Soziologen Andreas Reckwitz zufolge derzeit befinden.

So erläutert er in seinem Buch «Die Gesellschaft der Singularitäten», dass wir seit den 1980er-Jahren verstärkt versuchen, zwei Ideale in Übereinkunft zu bringen, die sich lange antagonistisch gegenüberstanden: jenes der Bürgerlichkeit und das der Romantik.

Während erstere gesellschaftliche Anerkennung als erstrebenswert ausgibt, geht es letzterer um die Entfaltung des eigene Selbst ohne Rücksicht auf Statusverluste.

Heute allerdings dreht sich alles um das, was Reckwitz unter der scheinbar paradoxen Begrifflichkeit einer «gelungenen Selbstdarstellung» fasst. Wir wollen uns sowohl nach innen authentisch fühlen, sowie nach aussen authentisch wahrgenommen werden. Romantische Selbstverwirklichung ja, aber so, dass sie zur Anerkennung durch andere führt.

Dass diese Verklammerung mit einem hohen Frustrationspotenzial einhergeht, zeigt die Situation an der Kasse. Auf der einen Seite die nach innen authentische Künstlerexistenz, die allerdings mit ihrem sozialen Status hadert. Auf der anderen ein Dasein, das zwar gesellschaftlich erfolgreich ist, man sich allerdings fragt, wo das authentische Ich denn eigentlich geblieben ist.

Illustration von einem Mann mit Smiley und Spiegel in der Hand
Legende: «Wir wollen uns sowohl nach innen authentisch fühlen, sowie nach aussen authentisch wahrgenommen werden.» SRF / Sandra Bayer

Eine Gesellschaft der Besonderen

Was fängt man damit nun an? Wer Authentizität wie Reckwitz nicht als Suche nach einem Wesenskern, sondern als Performance denkt, dem mag dies zunächst wie eine weitere Zumutung erscheinen – nicht nur soll man das Selbst finden, sondern dieses gleich auch noch selbst herstellen.

Bei näherer Betrachtung entfaltet ein solcher Blickwinkel allerdings ein enormes politisches Potenzial. Denn: Ansprüche an Performances können sich verändern, weshalb es denkbar ist, das Streben nach Authentizität nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich zu fassen.

Serie: Philosophisch durch den Alltag

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Konkret bedeutete dies, nicht mehr nur zu fragen, wer man selbst eigentlich ist, sondern wie sich diese Frage potenziell alle Mitglieder der Gesellschaft stellen und auf ihre Weise gelingend beantworten können. Wie also wäre eine Gesellschaft möglich, in der alle gemeinsam auf ihre Weise besonders sein können?

So gefasst würde der Hype um Authentizität seinen narzisstischen Charakter verlieren, weil es nicht mehr nur um das glückliche Leben Einzelner ginge, sondern auch um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die solch eine gelingende Existenz für möglichst viele Menschen möglich machen.

Authentizität würde, anders gesagt, zu einem genuin philosophischen Thema – und dadurch vielleicht auch mehr als ein Versprechen auf der Kaffeepackung.

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