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Afghanistan nach US-Abzug An den Taliban führt kein Weg vorbei

Der Truppenabzug der USA aus Afghanistan hat ein Machtvakuum geschaffen, das die Taliban in hohem Tempo zu füllen vermögen. Noch vor Wintereinbruch dürften sie das Land unter eigene Kontrolle gebracht haben – oder vom amtierenden Präsidenten Aschraf Ghani wohl oder übel zum Mitregieren eingeladen worden sein.

Staaten auf der ganzen Welt arbeiten daher fieberhaft an einer Strategie für die neue Realität am Hindukusch. Zumal diese viele Risiken birgt.

Afghanistan könnte unter den Taliban wieder zum Rückzugs- und Unterstützungsgebiet für islamistische Terrororganisationen werden. So arbeiten die Taliban mit radikalislamischen Gruppierungen im nördlichen Nachbarstaat Tadschikistan zusammen.

Taliban brauchen mehr als Gewehre und Scharia

Auch im Drogen- und Menschenhandel hat Afghanistan weltweite Bedeutung. Und seit dem westlichen Truppenabzug haben bereits eine Viertelmillion Afghaninnen und Afghanen ihre Wohnorte verlassen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Nachbarstaaten und Europa mit einer neuen Fluchtwelle konfrontiert sein werden.

Der Westen hat bereits angekündigt, ein Taliban-Regime in Kabul nicht anerkennen zu wollen. Die Taliban dürften versuchen, mit neuen Partnern einer internationalen Isolation entgegenzuwirken.

Denn für die Festigung der Macht brauchen die Taliban mehr als Sturmgewehre und die Scharia, sie brauchen Handel, Investitionen, politische Partner.

Kein Wunder, haben die Taliban mit zahllosen Staaten in der näheren und weiteren Umgebung Kontakt aufgenommen. Mit Staaten, die allesamt ein ambivalentes Verhältnis zu ihnen pflegen. Ob China oder Russland, die Türkei oder der Iran, ob Indien oder Pakistan: Sie alle sehen in der neuen Lage nebst vielen Gefahren auch eigenen Nutzen.

Fürs Nachbarland China wäre Afghanistan eine Wegstrecke der Neuen Seidenstrasse nach Europa. Für Indien und Pakistan ist Afghanistan ein Spielball in ihrem Powerplay. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will im Ringen um Macht und Einfluss nicht abseitsstehen – und ist jetzt plötzlich bereit, mit den Taliban zu verhandeln.

Allianz mit China und Pakistan?

Welchen geostrategischen Platz ein Taliban-Afghanistan einnehmen wird, ist offen. Ein aus Taliban-Sicht attraktives Szenario wäre zum Beispiel eine Allianz mit Pakistan und China: beide Nachbarstaaten, beide Atommächte, China mit einem Sitz im UNO-Sicherheitsrat.

In den Sicherheitskräften des islamisch geprägten Pakistan gibt es Sympathien für die Ideologie der Taliban, und die Wirtschaftssupermacht China macht mit jedem Regime gerne Geschäfte – Ideologie hin oder her.

Als «Great Game» («Grosses Spiel») wurde im 19. Jahrhundert das Ringen zwischen Russland und Grossbritannien um Macht und Einfluss in Afghanistan bezeichnet. Im Jahr 2021 erfährt dieses «Great Game» eine Neuauflage – mit neuen mächtigen Spielern.

Sebastian Ramspeck

Internationaler Korrespondent

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Sebastian Ramspeck ist internationaler Korrespondent für SRF. Zuvor war er Korrespondent in Brüssel und arbeitete als Wirtschaftsreporter für das Nachrichtenmagazin «10vor10». Ramspeck studierte Internationale Beziehungen am Graduate Institute in Genf.

Hier finden Sie weitere Artikel von Sebastian Ramspeck und Informationen zu seiner Person.

Tagesschau, 12.08.2021, 12:45 Uhr

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