Nur ein vermeintlicher Niedergang: Die Gründung des IS geht auf das Jahr 2013 zurück. Im Grenzgebiet zwischen Syrien und Irak breiteten sich die Islamisten damals aus. Die internationale Staatengemeinschaft reagierte nur langsam auf die Bedrohung – dann aber mit voller Härte. Als die USA im Jahr 2019 die Tötung des langjährigen Führers Abu Bakr al-Bagdadi bekannt gaben, bezeichneten manche den Islamischen Staat als besiegt. In den Jahren seither ging die Zahl der Anschläge zwar zurück, aber es bildeten sich weltweit Ableger, und in sozialen Medien lebte der IS dank seiner Propaganda weiter.
Das Vakuum Afghanistan: Verschiedene Entwicklungen in den vergangenen Jahren haben es dem IS erlaubt, neue Gebiete zu erschliessen. Am folgenreichsten war der Abzug der USA aus Afghanistan im Sommer 2021. Seither ist dort der sogenannte Islamische Staat Provinz Khorasan (ISPK) erstarkt, der mit einem Anschlag am Flughafen von Kabul Ansehen in islamistischen Kreisen erlangte. Die Taliban sind verfeindet mit dem ISPK und geben vor, den IS-Ableger zu bekämpfen. Dennoch ist es dem IS gelungen, mehrere Tausend Kämpfer zu rekrutieren und Rückzugsgebiete zu halten. Von dort aus verübt der ISPK Anschläge in der Region und betreibt intensiv Propaganda, auch in Englisch.
Neue Netzwerke in Europa: Gemäss Zahlen der europäischen Polizeibehörde (Interpol) ging die Anzahl der dschihadistischen Anschläge in den vergangenen Jahren zurück. Nun aber müssen die Justizbehörden auf eine veränderte Bedrohungslage reagieren. Die Dschihadisten in Afghanistan exportieren ihre Ideologie nach Zentralasien und bis nach Europa. In Deutschland wurden in der jüngeren Vergangenheit wiederholt Islamisten aus Tadschikistan verhaftet – eine Gruppe, der man zuvor nur wenig Beachtung schenkte. Der deutsche Terrorismus-Experte Peter Neumann warnte jüngst auf X, dass es sich beim ISPK um den aktivsten IS-Ableger handle. Nicolas Stockhammer, Professor an der Donau-Universität Krems, nennt die Gruppe einen «Game Changer» für Europa.
Der Krieg in Nahost: In diese Gemengelange fielen die Terrorangriffe der Hamas auf Israel vom 7. Oktober und ihre Folgen. Sie befeuern einen teilweise bestehenden Judenhass. So fällt die IS- und andere dschihadistische Propaganda hier stellenweise auf fruchtbaren Boden. Jüdische und israelische Ziele in Europa rücken noch näher ins Zentrum der Bedrohungslage. Der IS hat am Donnerstag, als er sich auch zum Anschlag in Kerman bekannte, auch den Start einer neuen Kampagne verkündet. Ihr Titel: «Tötet sie, wo immer ihr sie findet.» Darin wird zu Anschlägen weltweit aufgerufen.
Andersgläubige Muslime als Ziel: Die Anschläge in Kerman mögen die tödlichsten in der Geschichte der islamischen Republik im Iran gewesen sein. Doch sie sind nicht die ersten, zu denen sich der IS bekannt hat. Im Oktober 2022 tötete ein Attentäter 15 Pilger in Schiras. Radikale Sunniten betrachten den mehrheitlich schiitischen Staat und das Regime seit jeher feindlich. Der sunnitische IS befeuert den Hass gegen die Schiiten, so ist auch der Anschlag in Kerman zu erklären. Auch in Irak und Afghanistan hat der IS immer wieder schiitische Menschenansammlungen angegriffen. Seine tödliche Logik: Alle, die sich seiner Auslegung des Islams nicht unterwerfen, sind Ungläubige und damit legitime Ziele.