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Bandengewalt in Brasilien «Ohne Gewalt ist organisierte Kriminalität kaum zu bekämpfen»

Nach einem Polizeieinsatz gegen das Verbrechersyndikat Comando Vermelho in einem Armenviertel von Rio de Janeiro hat die Regierung des Bundesstaates über 100 getötete Verdächtige und mehrere getötete Polizisten bestätigt. Die Polizei spricht von einem Schlag gegen das organisierte Verbrechen. Brasilienkenner Alexander Thoele beleuchtet die Hintergründe.

Alexander Thoele

Journalist/Redaktor bei Swissinfo

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Alexander Thoele arbeitet seit 2002 bei SWI Swissinfo als Journalist und Redaktor. Er stammt aus einer deutsch-brasilianischen Familie und wurde in Rio de Janeiro geboren. Er hat Kommuniktionswissenschaften und Informatik studiert und pflegte enge Beziehungen zu Brasilien.

SRF News: Wie häufig sind derartige Schiessereien in den Favelas – den Armenvierteln – von Rio de Janeiro?

Alexander Thoele: Eine NGO in Brasilien hat ausgerechnet, dass es seit Anfang dieses Jahres nur acht Tage ohne Schiesserei in Rio gegeben hat. Seit 2024 sind zum Beispiel 700 Menschen bei Polizeiaktionen im Bundesstaat Rio gestorben.

Es ist praktisch unmöglich, durch die Festnahme von einer oder mehreren Personen dieses Kartell zu zerstören.

Konnte mit der Aktion vom Dienstag dem Verbrechersyndikat damit ein grösserer Schaden zugefügt werden?

Eigentlich nicht. Die Festnahme von einem der Bosse dieser grossen Drogenkartelle ist der Polizei leider nicht gelungen. Aber im Grunde genommen ist das Comando Vermelho (dt. Rotes Kommando, Anmerk. der Red.) ein flächendeckendes Syndikat, das in ganz Brasilien verbreitet ist. Diese Leute verfügen über Waffen und über Milliardenvermögen. Es ist praktisch unmöglich, durch die Festnahme von einer oder mehreren Personen dieses Kartell zu zerstören. Mittlerweile ist dies ein grosses soziales Problem in Brasilien.

Behörden korrigieren Zahl nach oben: 132 Tote

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Bei dem blutigen Polizeieinsatz gegen das Verbrechersyndikat Comando Vermelho (Rotes Kommando) in Rio de Janeiro sind mindestens 132 Menschen ums Leben gekommen. Das teilte die unabhängige Ombudsstelle des Bundesstaats Rio de Janeiro am Mittwoch mit. Damit stieg die Zahl der Opfer einen Tag nach den stundenlangen Gefechten in den Favelas Alemão und Penha auf mehr als das Doppelte. 

Die Regierung des Bundesstaats Rio de Janeiro bestätigte zuvor zunächst 64 Tote, darunter vier Polizisten, korrigierte die Zahl dann aber ohne Angabe von Gründen auf 58. Allerdings bargen die Bewohner der Favela Penha am Mittwoch Dutzende Leichen aus den umliegenden Brachflächen und Waldgebieten und legten sich auf der Hauptstrasse des Viertels ab. Der Sprecher der Militärpolizei Marcelo de Menezes Nogueira sagte dem Fernsehsender TV Globo, er gehe davon aus, dass es sich um weitere Tote handele, die noch nicht registriert wurden. 

Menschenrechtsaktivisten werfen der Polizei zu viel Brutalität vor. Wäre es möglich gewesen, diese Razzia mit weniger Opfern durchzuführen?

Experten sagen, dass es fast unmöglich sei, Gewalt zu vermeiden. Man muss sich vorstellen, dass in diesem dicht besiedelten Slum Hunderttausende von Menschen wohnen. An dem Einsatz haben 2500 schwerbewaffnete Polizisten teilgenommen. Sie kamen mit Panzern, anderen schweren Waffen und Helikoptern in dieses Armenviertel, in dem auch ungefähr 4000 Kriminelle leben. Auch diese sind schwer bewaffnet. Die haben Drohnen und Kriegswaffen, mit denen sie Helikopter abschiessen können. Es ist ein grosses soziales Problem, das die Regierung vielleicht eher durch Verhandlungen oder mit anderen Taktiken lösen könnte.

Was macht die Regierung, damit weniger Leute ins organisierte Verbrechen geraten?

Momentan verhandeln die verschiedenen Instanzen, auch die Bundesländer Brasiliens. Am Dienstag hat der Landes-Präsident von Rio de Janeiro die Bundesregierung Brasiliens aufgefordert, schwere Waffen zu liefern, auch Panzer der Armee. Aber die Bundesregierung lehnt das ab. Lula ist gegen den Einsatz der Armee. Er ist der Meinung, dass die Armee nicht für polizeiliche Aktionen zuständig ist.

Polizeieinsatz vor bemaltem Gebäude, Polizisten in Uniform mit Helmen.
Legende: Eine Spezialeinheit der Militärpolizei nimmt mutmassliche Drogendealer während einer Aktion gegen den Drogenhandel in der Favela do Penha in Rio de Janeiro fest. (28.10.2025) REUTERS/Aline Massuca

Gibt es denn Ideen, wie man Menschen eine Perspektive gibt, damit sie nicht in die organisierte Kriminalität abrutschen?

Drogenkonsum, Armut und Perspektivenlosigkeit von vielen jungen Leuten in den Slums sind das grösste Problem. Deswegen verteidigen NGOs auch die Aktionen der Regierung: Den jungen Leuten soll eine Perspektive geboten werden. Es geht um Arbeit, Bildung und mehr Investitionen in Sozialeinrichtungen, Spitälern und Schulen.

Diese Perspektiven haben die jungen Leute in den Slums heute nicht? 

Nein.

Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.

Rendez-vous, 29.10.2025, 12:30 Uhr ; 

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