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Corona-Lockerungen in Russland «Es geht wohl darum, positive Stimmung zu verbreiten»

Anders als in der Schweiz steigen in Russland die Zahlen der Covid-19-Infizierten wieder an. Trotzdem hat die russische Regierung einen Lockerungsplan für die Massnahmen vorgestellt. SRF-Russlandkorrespondent David Nauer erläutert die Zusammenhänge.

SRF News: Wie lassen sich Lockerungen der Massnahmen mit dem Wiederanstieg von Infizierten vereinbaren?

David Nauer: Gute Frage. Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen ist sehr stark angestiegen. Sie ist nun doppelt so hoch wie noch vergangene Woche. Es ist rätselhaft, wie das passieren konnte, denn Russland steht seit über einem Monat unter Quarantäne. Dennoch will die Regierung die Massnahmen lockern. Es geht wohl darum, ein bisschen positive Stimmung zu verbreiten.

Tatsächlich scheint es, als gehe Russland einen besonderen Weg in der Bekämpfung der Pandemie.

Aber was die Grundlage dafür ist, ist für mich sehr schwer nachzuvollziehen.

Man weiss nicht, warum die Fälle wieder so stark ansteigen?

Nein. Offiziell hat es damit zu tun, dass mehr getestet wird, und das erklärt tatsächlich einen Teil des Anstiegs. Es ist aber offenkundig, dass die Massnahmen von den Bürgerinnen und Bürgern schlicht zu wenig beachtet werden. Es gibt Fälle von Klöstern, Spitälern und Gasförderfeldern im hohen Norden, wo es zu Hunderten ja, zu Tausenden Infektionen gekommen ist. Das sind Orte, wo trotz Quarantäne normal gearbeitet wird.

Man tappt insgesamt im Dunkeln?

Ja, die Epidemie ist ein ziemlicher Blindflug. Die Behörden nennen Infektionsraten und die Anzahl von Toten, aber diese Zahlen werfen neue Fragen auf. Zum Beispiel ist es so, dass Russland etwa fünfmal mehr Infizierte hat als die Schweiz, aber dass in der Schweiz mehr Leute an Covid-19 gestorben sind als offiziell in Russland.

Das hiesse, dass Corona in der Schweiz tödlicher als in Russland ist. Das ist doch etwas seltsam: Man kann nicht davon ausgehen, dass das russische Gesundheitswesen so viel besser ist als das schweizerische. Diese Zahlen haben wohl eher damit zu tun, dass die russische Statistik nicht stimmt.

111 medizinische Fachpersonen verstorben

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Eine Gruppe russischer Ärzte hat zur Erinnerung an medizinische Fachpersonen – die im Zusammenhang mit der Pandemie verstorben sind – eine Liste veröffentlicht: Insgesamt sollen es bis jetzt 111 Personen sein. Eine offizielle Liste der Behörden zu verstorbenem Gesundheitspersonal gibt es nicht.

Vor einigen Tagen meldete die Nachrichtenagentur AP, dass in Russland zwei Ärztinnen und ein Arzt unabhängig voneinander aus Spitalfenstern gestürzt seien. Die beiden Ärztinnen starben, der Arzt überlebte schwerverletzt. Offiziell werden die Stürze als Unfälle qualifiziert, laut Gerüchten soll es sich aber um Verzweiflungssuizide aufgrund der Pandemie handeln.

Welche Lockerungen sind in Russland geplant?

Der Plan sieht ähnlich aus wie in anderen Ländern. Allerdings haben die Behörden nicht gesagt, wann diese Lockerungen in Kraft treten werden. Es soll je nach Region unterschiedlich sein. In Moskau hat der Bürgermeister bereits angekündigt, dass die Quarantäne bis auf Weiteres erhalten bleibt. Aber die Baustellen und Industriebetriebe sollen auch in Moskau ab nächster Woche wieder normal arbeiten.

Die meisten Russinnen und Russen verfolgen das Geschehen eher mit einem unpolitischen Ansatz und einer gehörigen Portion Fatalismus.

Wie kommt das in der Bevölkerung an?

Es gibt Kritik von vereinzelten liberalen Oppositionellen auf sozialen Medien. Einer dieser Oppositionellen meinte, es gebe kein Land auf der Welt, das vor dem Höhepunkt der Epidemie bereits über Lockerungen nachdenke. Tatsächlich scheint es, als gehe Russland einen besonderen Weg in der Bekämpfung der Pandemie. Aber die meisten Russinnen und Russen verfolgen das Geschehen eher mit einem unpolitischen Ansatz und einer gehörigen Portion Fatalismus.

Im April sagten nur 28 Prozent der Befragten, sie würden ihrem Präsidenten Wladimir Putin vertrauen. Muss ihn das beunruhigen?

Mit Umfragen in Russland ist es so eine Sache. Je nachdem, wer fragt und wie man fragt, kommen mal die einen und mal ganz andere Resultate heraus. Aber Putin hat ein Popularitätsproblem, das kann man sicher festhalten.

Kurz gesagt, es gibt keine politischen Kräfte, die eine Gefahr für Putin werden könnten.

Für seine Macht ist diese wachsende Unzufriedenheit vorerst keine Gefahr, denn es gibt in Russland keine organisierte, starke Opposition und keine unabhängigen, grossen Medien.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

SRF 4 News, 07:15 Uhr ; 

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