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Coronavirus erreicht Russland …und dann kam Sergej Sobjanin

Vom Mann ohne Eigenschaften zum obersten Krisenmanager Russlands: Moskaus Bürgermeister gewinnt in der Krise an Format.

So haben die Moskauerinnen und Moskauer ihren Bürgermeister gekannt: «Ich wollte in Moskau eine weitere Perle schaffen. Einen Ort, an den es Einheimische und Touristen gleichermassen zieht», sagte Sergej Sobjanin kurz nach der Eröffnung des Zarjadje-Parks.

Die Parklandschaft gleich beim Kreml war ein typisches Sobjanin-Projekt: teuer, modern, von oben verordnet. Seit seinem Amtsantritt 2010 hat der gebürtige Sibirier Moskau auf Vordermann gebracht: Er pumpte Milliarden in die Infrastruktur und liess Parks und Fussgängerzonen anlegen.

Moskau in der Quarantäne
Legende: Moskau steht seit heute unter Quarantäne. Aus dem Haus dürfen die Bürgerinnen und Bürger nur noch, wenn sie einen dringenden Grund dafür haben. Angeordnet hat die Massnahme, die inzwischen auch in anderen Landesteilen gilt, Sergej Sobjanin. Reuters

Gleichwohl blieb Sobjanin seltsam blass: kein Politiker, sondern eher ein Verwalter ohne besondere Eigenschaften. Seine ganze Macht beruhte darauf, dass Präsident Wladimir Putin ihn stützte. Es war eine geliehene Macht, wenn man so will.

Bis das Coronavirus kam. Nicht alle Regionen würden verstehen, womit man es zu tun habe, mahnte Sobjanin: «Da gibts Gouverneure, die sagen: ‹Ich habe ja bloss einen einzigen Infizierten.› Aber das reale Bild ist ein ganz anderes, denn wir testen zu wenig.»

Liebe Moskauerinnen und Moskauer der älteren Generation (...) Ich mache mir ernsthaft Sorgen.
Autor: Sergej Sobjanin Bürgermeister von Moskau

In Anbetracht des Virus gewinnt Sobjanin an Format. Er spricht Klartext. Und zwar vor laufenden Kameras – an einer Sitzung mit Putin. Das ist ungewöhnlich in einem Land, in dem die Behörden schlechte Nachrichten lieber unter den Teppich kehren.

Der Verkünder schlechter Nachrichten

Anders Sobjanin. Er hat schon vor Wochen angeordnet, am Stadtrand von Moskau ein provisorisches Spital errichten zu lassen. Ein Dutzend weiterer Kliniken werden umgerüstet, um Corona-Patienten aufzunehmen.

Gleichzeitig wendet er sich regelmässig an die Bevölkerung: «Liebe Moskauerinnen und Moskauer der älteren Generation. Meine heutige Ansprache wird sie vermutlich nicht freuen, möglicherweise sogar einen inneren Protest hervorrufen. Aber ich mache mir ernsthaft Sorgen.»

Putin mit Sobjanin im Februar 2020 in Moskau.
Legende: Der 61-jährige Putin-Vertraute galt lange als eher grauer Apparatschik, als Verwalter. Jetzt, in der Corona-Epidemie avanciert er zum wichtigsten Krisenmanager Russlands. Reuters

So begründete Sobjanin vor eine Woche die Quarantäne für über 65-jährige Bewohner der Hauptstadt. Am Sonntagabend weitete er das faktische Ausgehverbot auf alle Altersgruppen aus. Dem Vernehmen nach soll es im Machtapparat Widerstände gegen die harte Massnahme gegeben haben.

Moskau macht dicht

Selbst Putin hatte vor ein paar Tagen bloss eine «arbeitsfreie Woche» angeordnet. Das tönte fast nach Urlaub, als ob sich der sonst so entscheidungsfreudige Präsident schwertut, durchzugreifen.

Sobjanin hat da keine Mühe. Putin, dem er seit 20 Jahren in verschiedenen Positionen dient, hat ihn zum Chef des Corona-Krisenstabs ernannt. Diese Position erlaubt dem Bürgermeister offenbar sogar, deutlich weiter zu gehen als der Präsident es für nötig hält.

Nun steht Moskau still. Und die Hauptstadt macht Schule: Auch andere Regionen haben inzwischen entsprechende Einschränkungen erlassen.

Ein aufgeklärter Autokrat

Sobjanin ist kein Demokrat. Bei der Wahl zum Stadtparlament im vergangenen Jahr verweigerte er den meisten Oppositionellen die Teilnahme – und liess Demonstrationen niederknüppeln. Und auch jetzt, in der Krise, soll der Staat die Kontrolle behalten: Der Moskauer Bürgermeister lässt ein System entwickeln, mit dem elektronisch überwacht werden kann, ob die Bürger die Quarantäne einhalten.

Sobjanins Methoden sind die eines aufgeklärten Autokraten: Er befiehlt, was zu tun ist; diskutiert wird nicht. Aber gleichzeitig glaubt man ihm, dass er gute Lösungen finden will – für sich und für die Menschen in der Stadt.

So war das beim Park Zarjadje, so ist es beim Coronavirus.

Echo der Zeit vom 30.03.2020

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