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Die Angst vor der Front Wie sich Ukrainer dem Kriegsdienst entziehen

Sein Land im Krieg zu verteidigen und womöglich sein Leben dafür zu lassen, ist nicht allen gegeben: Ukrainische Wehrpflichtige fliehen, fälschen Dokumente oder verstecken sich.

Im Krieg in der Ukraine gerät Kiew zusehends in die Defensive. Langsam, aber stetig verschiebt Russland die Front im Osten ins Landesinnere. Und der Ukraine fehlt es an Munition, Waffen – und Soldaten.

Ende Februar bezifferte Präsident Wolodimir Selenski die Zahl der getöteten Soldaten seiner Streitkräfte auf 31'000. Zehntausende mehr wurden verwundet.

Verluste auf russischer Seite wohl deutlich höher

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Soldat in Uniform umarmt Frau vor einem Bus.
Legende: Mobilmachung in Russland für den Krieg in der Ukraine. Keystone/EPA/Maxim Shipenkow

Offizielle Angaben zu seinen Verlusten im Ukraine-Krieg macht Russland nicht. Das US-Verteidigungsministerium schätzte Mitte Februar, dass die Zahl der getöteten oder verwundeten russischen Soldaten inzwischen die Marke von 315'000 überschritten hat.

Gleichzeitig verfügt Russland aber über ungleich grössere Ressourcen als die Ukraine. Auch, was die Möglichkeit betrifft, Soldaten für die Armee zu rekrutieren.

Für Kiew wird es im dritten Jahr des Krieges zusehends schwieriger, Männer für den Wehrdienst einzuziehen, wie Judith Huber berichtet, die eben erst als Sonderkorrespondentin von SRF im Land war. Denn viele Männer, die bislang verschont blieben, wollen nicht in den Krieg ziehen.

Flucht ins Ausland und korrupte Beamte

Zwar entziehe sich nur eine kleine Minderheit dem Kriegsdienst, in dem sie ins Ausland fliehe. Laut Schätzungen der britischen BBC vom letzten Herbst haben sich rund 20'000 ukrainische Männer seit Beginn der russischen Grossinvasion ins Ausland abgesetzt.

Ukrainische Grenzsoldaten auf Patrouille.
Legende: Die ukrainischen Behörden melden, dass sie seit Beginn des russischen Angriffskriegs über 21'000 Wehrdienstpflichtige beim illegalen Grenzübertritt aufgegriffen haben. Die Dunkelziffer dürfte aber hoch sein. Bild: Ukrainische Grenzsoldaten auf Patrouille. Keystone/AP/Hanna Arhirova

Die Mehrheit derjenigen, die vor der Rekrutierung fliehen, gelangt auf abgelegenen Pfaden über die grüne Grenze. «Sie tun das oft nachts und mithilfe von Schleusern», sagt Huber. Die Schleusernetzwerke sollen zwischen 5000 und 15'000 Euro für ihre Dienste verlangen. Andere schwimmen über den Grenzfluss Theiss nach Ungarn oder Rumänien. «Tragischerweise sind dabei auch schon zahlreiche Männer ertrunken.»

Manche Wehrpflichtige kaufen sich bei korrupten Beamten ein gefälschtes medizinisches Attest, das sie als untauglich ausweist. Damit versuchen sie, ganz regulär die Grenze zu passieren.  

Vater umarmt Frau und Tochter, die nach Kriegsbeginn mit Zug aus Kiew flüchten.
Legende: Viele ukrainische Frauen und Kinder sind in den letzten Jahren ins Ausland geflüchtet – ihre Partner und Väter blieben oft zurück. Manche von ihnen suchen nach einer Möglichkeit, zu ihrer Familie zu gelangen. Keystone/AP/Emilio Morenatti

Erst letzte Woche meldeten die ukrainischen Behörden, sie hätten einen Mann festgenommen, der sich als Frau verkleidet hatte. Mit dem Pass seiner Schwester versuchte er, sich ins Ausland abzusetzen.

Ausharren, bis der Krieg vorüber ist

Viele wehrpflichtige Männer verstecken sich derweil innerhalb der Ukraine. Offizielle Zahlen gibt es dazu keine. Wie Huber bei ihren Aufenthalten im Land erfahren hat, scheint es sich dabei aber um ein verbreitetes Phänomen zu handeln.

Jeder und jede kenne jemanden, der sich auf diesem Weg dem Kriegsdienst entziehe: «Ich habe etwa von einem Mann gehört, der an seinem Arbeitsplatz übernachtet und kaum nach Hause geht. Andere meiden den öffentlichen Verkehr und gehen selten raus.»

Dauer des Kriegsdiensts weiter unklar

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Ein neues Gesetzespaket soll mehr Transparenz schaffen, was den Dienst in der ukrainischen Armee betrifft. Ursprünglich sollte darin auch die Dauer des Dienstes definiert werden. Auf Wunsch der Armeeführung wurde dieser Passus aber aus dem Gesetz gestrichen.

«Die Lage an der Front ist derzeit zu schwierig, als dass man erfahrene Soldaten gehen lassen könnte», sagt Huber. Denn sonst wäre die Gefahr eines Zusammenbruchs der Front zu gross.

Die Gründe dafür, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, sind vielfältig – und auch menschlich verständlich. Manche der Männer haben keinerlei militärische Ausbildung und glauben, dass sie nicht fähig sind, zu kämpfen. Anderen fehlt das Vertrauen in die Armee, dass sie ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden. Und viele fürchten sich schlichtweg davor, zu sterben.

Verwundeter Soldat bei Bachmut (September 2023).
Legende: Unter den Kriegsdienstverweigerern gibt es auch Männer, die den Schrecken an der Front bereits erlebt haben – und nicht mehr zurückwollen. Bild: Verwundeter Soldat bei Bachmut (September 2023). Getty Images/Lynsey Addario

In der ukrainischen Gesellschaft gebe es mitunter auch Verständnis für Männer, die aus solchen Gründen keinen Wehrdienst leisten wollen, so die Sonderkorrespondentin. Bei Soldaten, die ihr Land verteidigen, und ihren Angehörigen sieht das aber anders aus: «Sie finden es unfair, dass die einen kämpfen müssen und die anderen nicht.» Diese Kritik verstärke sich nochmal gegenüber jenen, die ins Ausland geflohen sind. «Dieses Verhalten wird als unpatriotisch gebrandmarkt», schliesst Huber.

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SRF 4 News, 10.05.2024, 7:20 Uhr ; 

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