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Flüchtlinge unerwünscht Pakistan deportiert Afghanen – direkt in die Hände der Taliban

Jahrzehntelang galt Pakistan als sicherer Hafen für Millionen afghanische Flüchtlinge, die vor Krieg und Verfolgung in ihrer Heimat flohen. Damit ist Schluss. Bis Jahresende will Pakistan praktisch alle Flüchtlinge loswerden. In Afghanistan erwarten sie Armut, Hunger und die Taliban.

Mehrafzon Jalili ist völlig durchnässt. Ihr schwarzer Kapuzenpulli bietet keinen Schutz mehr gegen den Regen, der seit Tagen nicht mehr aufhört. Die 24-jährige Afghanin hat in Afghanistan Zahnmedizin studiert, bis die Taliban kamen. Seit Wochen lebt sie mit Hunderten Landsleuten in Zelten im Argentina Park, mitten in Pakistans Hauptstadt Islamabad.

Sie flohen aus Afghanistan, um zu überleben

Vor gut zwei Jahren lancierte die pakistanische Regierung ein «Programm zur Rückführung illegaler Flüchtlinge». Damals lebten noch knapp drei Millionen Afghanen und Afghaninnen in Pakistan. Bis Ende dieses Jahres sollen praktisch alle draussen sein. Die Regeln wurden mehrmals verschärft.

Frau mit Kapuze lächelt im Freien.
Legende: Mehrafzon Jalili studierte Zahnmedizin, bis die Taliban sie vertrieben. SRF

In den Zelten im Argentina Park wohnen Menschen wie Mehrafzon Jalili, die auf keinen Fall zurückwollen – die meisten wegen der Taliban. Die radikal-islamistischen Terroristen eroberten das Nachbarland Afghanistan vor gut vier Jahren im Sturm. Kurz zuvor hatten die USA das Land nach 20 Jahren Besatzung fluchtartig verlassen – und damit die Träume vieler junger Afghaninnen auf einen Schlag zunichte gemacht.

«Wir sind aus Afghanistan geflohen, um zu überleben. Doch jetzt erlaubt uns Pakistan nicht, zu bleiben.» Mehrafzon Jalili floh mit der Mutter und Geschwistern nach Pakistan – um wenigstens ihr Leben zu retten. Ihr Vater sei von den Taliban in Kabul ermordet worden. 

Die Taliban bedrohten die ganze Familie  

«Die Taliban bedrohten auch uns. Mein Vater arbeitete früher mit der französischen und der deutschen Regierung und auch mit der Nato zusammen. Darum landete die ganze Familie auf einer schwarzen Liste.» Auch ihre Schwestern seien ins Kreuzfeuer geraten, sagt die Afghanin, die Hosen trägt – was sie in Afghanistan ins Gefängnis bringen könnte. Die ältere Schwester habe als Ärztin Frauen im Sport gefördert.

Doch die Taliban haben Sport für Frauen verboten – wie vieles andere auch. Die jüngere Schwester durfte nicht mehr zur Schule gehen. Doch nicht einmal im Argentina Park sind sie sicher.

Vermieter schmeissen Afghanen aus der Wohnung

Mehrafzon Jalili bleibt vor einem roten Zelt stehen. Aus dem dunklen Inneren tönen helle Kinderstimmen. Hadi Masud, der in Wirklichkeit anders heisst, steckt den müden Kopf heraus. Er ist krank und kann nicht mehr arbeiten. «Der Vermieter hat uns vor zwei Monaten vor die Tür gesetzt, weil unsere Visa abgelaufen sind.»

Seit Ende Juni duldet die pakistanische Regierung nur noch Afghanen mit Visum. Die Behörden setzen Vermieter unter Druck, nicht weiter an undokumentierte Afghanen und Afghaninnen zu vermieten. Viele Vermieter schmissen sie daraufhin raus. 

Der frühere Militär hat Angst, dass er umgebracht wird

Auch Hadi Masud kam mit der letzten Flüchtlingswelle vor gut vier Jahren ins Land. «Ich habe unter der alten Regierung für das Militär gearbeitet. Mein Leben war nicht mehr sicher. Wenn sie mich deportieren, dann werden die Taliban mich und meine Familie umbringen.»

Die pakistanische Regierung unter Premierminister Shehbaz Sharif nimmt darauf keine Rücksicht mehr. Sie hat den Abschiebedruck in drei Wellen erhöht. Inzwischen werden auch Flüchtlinge ausgeschafft, die in Afghanistan durch die Taliban gefährdet sind.

In Islamabad aufgewachsen – und verzweifelt

Beim Verlassen des Parks läuft uns ein Mann mit langem Bart und grossem Regenschirm hinterher. Der Afghane Mohammad Nadim, 34, ist, wie seine Töchter, in Pakistan geboren – und verzweifelt. Seine Eltern flohen, wie Hunderttausende andere, vor gut 40 Jahren aus Afghanistan, nachdem die Sowjetunion dort einmarschiert war.  

Mann mit Bart im Freien mit Bäumen im Hintergrund
Legende: Mohammad Nadim ist in Islamabad aufgewachsen. Jetzt fürchtet er, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. SRF

Mohammad Nadim sagt: Pakistan sei für ihn wie sein Mutterland. Er habe in Islamabad seit frühester Kindheit hart gearbeitet, sich ein Taxi zusammengespart, seine drei Kinder in die Schule geschickt. Zwei Töchter seien Klassenbeste gewesen. Jetzt sei alles verloren. Das Taxi verkauft, das Geld fast verbraucht. Die Kinder dürften nicht mehr zur Schule gehen.

Nach Afghanistan wolle niemand in seiner Familie, sagt Mohammad Nadim. «Wenn ich daran denke, dass meine Töchter dort nicht mehr zur Schule gehen dürfen und vielleicht zwangsverheiratet werden, bricht es mir das Herz.» Er sei nur einmal kurz dort gewesen, um seine Identitätskarte zu holen. Auch das sei lange her.

Angebliche Bedrohung für die nationale Sicherheit

Doch in der Darstellung der pakistanischen Regierung sind Flüchtlinge wie Mohammad Nadim und seine Töchter eine Bedrohung für die nationale Sicherheit. Islamabad wirft den afghanischen Taliban vor, die militanten pakistanischen Taliban zu unterstützen, die in Pakistan Terroranschläge durchführen. Und nimmt auch die afghanischen Flüchtlinge in Sippenhaft.  

«Dieses Jahr war für Pakistan das tödlichste seit einem Jahrzehnt», sagt Abdullah Khan, der Direktor des Instituts für Konflikt- und Sicherheitsstudien in Islamabad. Hunderte Soldaten und Militante seien bei Terroranschlägen und Kämpfen bereits ums Leben gekommen. Er habe aber nie Beweise gefunden, dass afghanische Flüchtlinge in terroristische oder andere kriminelle Aktivitäten in Pakistan verstrickt seien. «Sie alle rauszuschmeissen, ist nicht in Ordnung.» Die Flüchtlinge lebten friedlich in Pakistan. Sie unterstützten die Wirtschaft, weil sie hart arbeiteten.

Trotz Massenausschaffung steigt die Zahl der Terroranschläge

Falls die Massenausschaffung dazu dienen sollte, den Terror zu bekämpfen, dann sei dieser Versuch klar gescheitert. Seit Beginn der Ausschaffungen vor gut zwei Jahren sei die Zahl der Terroranschläge in Pakistan noch deutlich gestiegen. «Wo bleibt da die Logik?», fragt Abdullah Khan.

Rechtlich ist Pakistan auf der sicheren Seite. Das Land hat die UNO-Flüchtlingskonvention nie unterschrieben, also das zentrale Dokument zum Schutz von Flüchtlingen auf der ganzen Welt.

Die Beziehung zwischen Pakistan und Afghanistan

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Die Beziehungen zwischen Pakistan und Afghanistan sind auf einem Tiefpunkt. Grund sind tödliche Gefechte an der langen, gemeinsamen Grenze. Seit Monaten sind wichtige Grenzübergänge wie Torkham geschlossen. Als Folge ist der wichtige Grenzverkehr komplett zusammengebrochen und die Preise für lebenswichtige Güter sind gestiegen. Afghanistan, das seit der Machtübernahme der Taliban von der internationalen Gemeinschaft gemieden wird,  sucht deshalb nach alternativen Handelspartnern und Verbündeten. Davon dürfte vor allem Indien profitieren, der Erzfeind Pakistans.

Ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft werde sich die Lage der afghanischen Flüchtlinge nicht verbessern, sagt Kushal Khan von der unabhängigen pakistanischen Menschenrechtskommission. «Afghanistan hat leider keine Priorität mehr, so sehen wir das.» Die Amerikaner und die internationale Gemeinschaft hätten mit dem Doha-Abkommen Afghanistan den Taliban überlassen. Mit dem Ukrainekrieg sei Afghanistan endgültig in Vergessenheit geraten, so Khan.

Die Situation zwischen Afghanistan und Pakistan bleibt angespannt

In den letzten Wochen sind die Spannungen zwischen Pakistan und Afghanistan eskaliert. Nach einem Selbstmordattentat in Islamabad Mitte November rief Verteidigungsminister Asif in Richtung Afghanistan: «Wir sind im Krieg.»

Die Eskalation hatte auch für die Flüchtlinge im Argentina Park dramatische Folgen. Wenige Tage nach dem Selbstmordattentat wurde ihr Zeltlager in Islamabad mitten in der Nacht von der Polizei gestürmt.

«Es war der 25. November», erinnert sich Mehrafzon Jalili. Sie habe geschlafen, als sie plötzlich Rufe hörte: «Wacht alle auf, die Polizei hat uns umzingelt. Alle schrien, jeder hatte Angst. Die Polizei hatte da schon alles abgeriegelt und die Busse vorbereitet.»

Die Polizei habe alle abgeführt, in Busse gesteckt und in ein Abschiebelager an der Grenze zu Afghanistan gefahren. «Wir haben Beweise, dass die Polizei ganze Flüchtlingsfamilien ausgeschafft und an der Grenze direkt den Taliban übergeben hat», sagt die junge Afghanin am Telefon.

Fast alle afghanischen Flüchtlinge aus dem Camp seien in dieser Nacht deportiert worden. Der Taxifahrer Mohammad Nadim wurde schon Anfang November festgenommen. Er sei mit seiner Familie nach Afghanistan ausgeschafft worden, teilte er per Whatsapp mit. Es gehe ihnen schlecht. Die Polizei habe seinen Rucksack und alle ihre Habseligkeiten aus dem Zelt einkassiert.

«Für mich ist es dort wie ein Friedhof»

Auch ihre Sachen seien weg, sagt Mehrafzon Jalili. Dabei hatte sie Glück im Unglück: Zwei Tage vor der Räumung des Lagers habe sie ein neues Visum bekommen. Sie durfte von der Grenze nach Islamabad zurückfahren. Noch einmal gerettet. Aber die Angst bleibt. Ihr Geld habe nur für ein Dreimonatsvisum gereicht, sagt die junge Frau. Es könnte sein, dass sie die nächste sein wird, die Pakistan zurückschafft – ins Land der Taliban.

In Afghanistan ist kein Platz für mich. Für mich ist es dort wie ein Friedhof.
Autor: Mehrafzon Jalili

«Aber was soll ich da?», fragt die junge Frau, die gerne Zahnärztin geworden wäre. «In Afghanistan ist kein Platz für mich. Für mich ist es dort wie ein Friedhof.»

Echo der Zeit, 19.12.2025, 18 Uhr; herb

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