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Frankreich bis Grossbritannien Warum wählen so viele Migranten die Route über den Ärmelkanal?

Noch nie wollten so viele Flüchtlinge über den Ärmelkanal von Frankreich nach Grossbritannien gelangen wie letztes Jahr. Über 28’000 Personen haben den gefährlichen Weg in kleinen Booten auf sich genommen, wie die britische Nachrichtenagentur PA gestützt auf Behördendaten meldet. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger über Gründe, Probleme und Möglichkeiten.

Judith Kohlenberger

Migrationsforscherin

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Kohlenberger ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seit 2015 arbeitet sie im Bereich der interdisziplinären Fluchtforschung. Sie lehrt an der Universität Wien, der Universität für angewandte Kunst Wien und der FH Wien.

SRF News: Über 28'000 Flüchtlinge haben 2021 die Route über den Ärmelkanal gewählt. Wie ist diese Zahl aus Ihrer Sicht einzuordnen?

Judith Kohlenberger: Andere Routen, die Geflüchtete bisher gewählt haben, um von Frankreich nach Grossbritannien zu kommen, sind covidbedingt viel schwieriger zu passieren. Das wären die Fähren oder der Landweg über den Eurotunnel. Sie weichen also auf den Seeweg aus. Zusätzlich gab es zu Beginn des Jahres 2020 einen starken covidbedingten Rückgang der Migration. Wir sehen jetzt eine entsprechende Pendelbewegung und einen Anstieg. Das muss man in Relation setzen.

Ungefähr neun männliche Flüchtlinge sitzen in einem Boot, eingehüllt mit weissen Decken.
Legende: Der Seeweg zählt auch in anderen Gegenden zu den gefährlichsten Routen, die Migrantinnen und Migranten nehmen können. Reuters

Woher kommen diese Flüchtlinge?

Es gibt noch kein vollständiges Bild. Bei vielen dieser Geflüchteten handelt es sich um Sekundärmigrantinnen und -migranten: Menschen, die schon längere Zeit Aufenthalte in Transitländern, auch in europäischen, hatten. Es gibt sicherlich einen Anteil, der bereits einen Asylantrag gestellt hat, der abgelehnt wurde und die Menschen reisen dann häufig weiter.

Vergleiche zu 2020 nur bedingt möglich

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Eine Frau impft eine Person in Johannesburg.
Legende: Der Einfluss von Corona: Viele Geflüchtete aus afrikanischen Herkunftsländern können keinen grünen Pass vorweisen. Reuters

Verschiedene Medien schreiben, es seien dreimal mehr Flüchtlinge im Jahr 2021 gewesen als noch 2020, dem Jahr, in dem die Pandemie begann. Die Zahlen aus den beiden Jahren könne man aber nur bedingt vergleichen, sagt Kohlenberger. Vergleichbar sei die Anzahl der Flüchtenden, die den Seeweg gewählt haben.

Andere Wege als der Seeweg wurden geschlossen oder sind covidbedingt nicht passierbar. Beispielsweise wegen fehlenden Covid-Dokumenten. «Man müsste die unterschiedlichen Routen miteinander vergleichen», sagt Kohlenberger entsprechend.

Zudem sei auch der Blick auf andere Länder wichtig. So hätten andere europäische Länder wesentlich mehr Asylanträge zu verzeichnen als Grossbritannien.

Man muss auch sagen, dass sich gerade im vergangenen Jahr die Sicherheitslage global an vielen Hotspots verschärft hat, beispielsweise in Afghanistan oder in afrikanischen Ländern. Nicht unwesentlich ist auch der Community-Effekt.

Die neuesten Zahlen stammen vom britischen Innenministerium. Welches Interesse hat Grossbritannien an der Veröffentlichung dieser Zahlen?

Grossbritannien versucht, die Schuld an dieser Misere oder an dieser sogenannten Migrationskrise der EU und konkret Frankreich zuzuschieben. Da spielen auch andere aussenpolitische Konflikte, die schon länger am Schwelen sind, mit hinein: allen voran der Brexit oder auch der Streit um die Fischereigründe mit Frankreich.

Grossbritannien versucht, die Schuld an dieser Misere der EU und konkret Frankreich zuzuschieben.
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Auch ein Grund ist die Tatsache, dass es bereits vor dem Ausstieg Grossbritanniens aus der EU ein Abkommen zwischen Grossbritannien und Frankreich gab, das die Verhinderung von Überfahrten von der französischen Küste betrifft. Grossbritannien unterstützt das Abkommen mit einer sehr hohen Geldsumme. Es gibt den Vorwurf, dass die Franzosen säumig wären und nicht genug tun würden, um die Küsten abzusichern. 

Gründe, warum Flüchtende nach Grossbritannien wollen

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  • Der Community-Effekt: Die Menschen wollen dorthin, wo bereits Familie, Freunde, Bekannte wohnen. Und Grossbritannien hat bereits eine gewisse Community von Geflüchteten und Migrantinnen aus unterschiedlichen Ländern. Das habe durchaus auch einen positiven Effekt, wenn es um Integration und Orientierung in einem neuen Land gehe, sagt Kohlenberger.
  • Die Sprache: Englisch ist global gesehen weiter verbreitet als Französisch. Viele würden sich erhoffen, die englische Sprache schneller beherrschen zu können und dadurch schneller Arbeit zu finden.
  • Der Facharbeitermangel: Grossbritannien hat aufgrund des Brexits mit einem Mangel an hoch qualifizierten, aber auch niedrig qualifizierten Arbeitenden zu kämpfen. Viele Migrantinnen und Migranten sehen darin laut der Migrationsforscherin eine Chance.

Warum kommen Frankreich und Grossbritannien bei der Migrationsproblematik nicht weiter?

Weil man weiterhin auf ein Rezept in der Migrationspolitik setzt, das seit 2015 gezeigt hat, dass es nur minder tauglich dafür ist, Anträge auf einem niedrigen Niveau zu halten und gleichzeitig den Tod von Geflüchteten zu verhindern. Das Rezept lässt sich mit drei A zusammenfassen: Abschottung, Auslagerung und Ausweichung.

Solange die Fluchtursachen in den Herkunftsländern weiterbestehen, wird es auch Ankünfte geben.
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Das ist eine schwierige Formel. Man schafft die Festung Europa: Man will die Ankünfte draussen halten, aber das Ganze ist nicht nachhaltig. Solange die Fluchtursachen in den Herkunftsländern weiterbestehen, wird es auch Ankünfte geben. Man kann damit rechnen, dass das mit der Klimakrise noch zunehmen wird. Man müsste ein System schaffen, wo es auch Möglichkeiten, zum Beispiel für afrikanische Migranten, gibt, um legal einreisen zu können.

EU-Flagge und Grossbritannien-Flagge wehen im Wind.
Legende: Es gibt auf EU-Ebene Vorstösse für ein ganzheitliches Migrationssystem. Aber Grossbritannien ist nicht mehr Teil der EU. «Somit ist die Grenze zwischen Frankreich und Grossbritannien im Grunde eine Aussengrenze für Frankreich und damit vielleicht doch nicht im Kern des Fokus, wenn es um die Grenzsicherung geht», so Kohlenberger. imago images

Das Gespräch führte Vera Deragisch.

SRF 4 News, 04.01.2022, 09:35 Uhr ; 

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