Die erste Fussball-WM auf arabischem Boden sorgt in der Region für grosse Begeisterung. Die frühere SRF-Nahostkorrespondentin Susanne Brunner berichtet aus der jordanischen Hauptstadt Amman, wie die WM dort aufgenommen wird.
SRF News: Nur Marokko hat sich für die Achtelfinals qualifiziert. Das Team schlug im letzten Gruppenspiel Kanada. Wie war die Stimmung in Jordanien nach dem Spiel?
Susanne Brunner: Die Stimmung war ausgelassen und voller Freude. In den meisten arabischen Ländern beginnt am Donnerstagnachmittag das Wochenende. Entsprechend war die Bar, in welcher ich das Spiel in Amman schaute, gut gefüllt. Vor allem junge Frauen und Männer jubelten über den Sieg Marokkos über Kanada.
Auch andere arabische Teams wie Tunesien oder Saudi-Arabien zeigten gute WM-Spiele in Katar. Was haben deren Siege über Frankreich und Argentinien ausgelöst?
Die WM wird in der arabischen Welt gefeiert wie ein Heimturnier. Selten zeigte sich die arabische Welt geeinter. Auf der Strasse – auch hier in Amman – gibt es praktisch nur ein Thema: die Fussball-WM. Siege wie jener Tunesiens gegen die alte Kolonialmacht Frankreich wurden gefeiert wie Triumphe der ganzen arabischen Welt.
Es schwingt auch ein Hauch von panarabischen Nationalismus mit.
Die WM gibt den Menschen das Gefühl, für einmal positiv von der Welt wahrgenommen zu werden – da schwingt auch ein Hauch von panarabischen Nationalismus mit. Die erste Phase der WM bot der arabischen Welt so viel Freude wie schon lange nicht mehr.
Wie zeigt sich diese Ausgelassenheit konkret?
Beispielsweise herrscht an vielen Schulen eine Art Ausnahmezustand. Die Schüler kleiden sich in den Trikots ihrer Lieblingsmannschaften. Dabei sind vor allem europäische und südamerikanische Nationalteams im Kurs. Selbst Mädchen gehen teils in Fussballtenüs, also kurzen Hosen, zur Schule – etwas, das sonst nie vorkommt.
Mädchen gehen in Fussballtenüs zur Schule – das kommt sonst nie vor.
Daneben gibt es eine politische Dimension: Tunesische Fans rollten im Stadion eine Palästina-Flagge aus, was bei arabischen Fans für Begeisterung sorgte. Auf der anderen Seite klagten israelische Fans, die an die WM nach Katar fuhren, über Pöbeleien und Beleidigungen.
Wie hat die arabische Welt die Kontroverse um die «One-Love»-Armbinde gegen Homophobie aufgenommen?
Sehr negativ. Dabei richtete sich die Stimmung vor allem gegen Deutschland, dessen Nationalmannschaftsspieler beim Gruppenfoto vor dem ersten Spiel aus Protest gegen das Verbot der Armbinde durch die Fifa bekanntlich ihre Münder mit den Händen zuhielten. Diese Aktion wurde in der arabischen Welt gar nicht goutiert.
Man empfindet in der arabischen Welt die LGBTQ-Diskussion als eine Art koloniale Arroganz.
Man empfindet hier die LGBTQ-Diskussion als eine Art koloniale Arroganz – der Westen wolle damit der ganzen Welt seine Werte aufdrücken, heisst es. Trotzdem: Die Kontroverse um die «One-Love»-Armbinde hat für viele Diskussionen gesorgt, und die Haltungen reichen von totaler Ablehnung bis hin zu passiver Toleranz.
Für die arabischen Teams – ausser für Marokko – ist die WM vorbei. Werden die kommenden Spiele in der arabischen Welt trotzdem weiter mitverfolgt?
Auf jeden Fall. Die Begeisterung ist riesig. In meinen fünf Jahren im Nahen Osten habe ich noch nie so viel Freude gesehen wie in diesen Tagen.
Ich habe im Nahen Osten noch nie so viel Freude gesehen wie in diesen Tagen.
Für die Menschen ist die Fussball-WM nicht nur eine Ablenkung von der schlechten Wirtschaftslage, den Kriegen und korrupten Regierungen. Die WM stärkt auch das Selbstwertgefühl der Menschen, denn sie zeigt, dass die arabische Welt eine Fussball-WM durchführen kann und das Vorurteil nicht stimmt, dass die arabische Kultur nur von Rückständigkeit und Terrorismus geprägt sei.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.