Ein tödlicher «Präzedenzfall»: Erstmals in der Geschichte Somalias gehen die Behörden einem tödlich verlaufenen Fall von weiblicher Genitalverstümmelung nach. Die Generalstaatsanwaltschaft kündigte an, den Fall eines zehnjährigen Mädchens genauer zu untersuchen. Das überrascht in einem Land, wo die Frauenbeschneidung seit Jahrhunderten weit verbreitet praktiziert wird und sehr stark tabuisiert ist, wie Charlotte Weil von der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes in Berlin sagt.
Es ist überraschend und auch sehr schön, dass das in Somalia auf die Agenda kommt.
Dass der Fall in Somalia derart für Aufsehen sorgt, erklärt Weil wie folgt: Mit dem Tod des Kindes durch Verstümmelung ist der Extremfall eingetreten. Zudem hat eine Journalistin den Fall über die sozialen Medien weltweit verbreitet.
Statistik des Leidens: In Somalia sind 98 Prozent aller Frauen beschnitten. Betroffen sind damit fast alle Frauen des 14-Millionen-Volkes. Das zeigt laut Weil deutlich, dass dieses Ritual bis heute im Grunde nicht in Frage gestellt wird. Über weibliche Genitalverstümmelung werde nicht gesprochen, obwohl diese per Verfassung eigentlich verboten wäre. Allerdings fehlt ein Gesetz, um diese schwere Körperverletzung zu ahnden. Weltweit sind laut Weil rund 200 Millionen Frauen betroffen, vor allem in Afrika, Asien und arabischen Ländern.
Die kleine Hoffnung: Dass der jetzige «Präzedenzfall» die Beschneidungspraxis in Somalia verändern wird, bezweifelt Weil. Immerhin sei begrüssenswert, dass der Fall jetzt thematisiert und vor Ort verfolgt werde. Ob dies letztlich zu einem Rückgang der Beschneidungen führe, sei fraglich. In Somalia sei die Genitalverstümmelung von Frauen weltweit am meisten verbreitet und entsprechend stark in der Gesellschaft verankert.
«Ferienbeschneidungen»: Mit der Migration ist die weibliche Genitalverstümmelung auch in den Ländern des globalen Nordens angekommen. Die Gemeinschaften halten in den Aufenthaltsländern an den Praktiken fest. Verbreitet sind laut Weil sogenannte «Ferienbeschneidungen» von Töchtern, um das blutige Ritual zu verheimlichen: Nach der akuten Wundheilung kehren die Familien dann mit den verstümmelten Mädchen zurück. Sie sind dann meist in einem Zustand, in dem sie wieder zu Schule gehen können.
Aufklärung und Prävention: Grössere Öffentlichkeit für Verstümmelungsfälle wird laut Weil nicht ausreichen, um diese Praxis einzudämmen und allmählich auszumerzen. Betroffen sei die ganze Zivilgesellschaft samt Politik und Fachkräften. Neben adäquater Unterstützung für bereits Betroffene brauche es auch Mittel für nachhaltige Aufklärungs- und Präventionsprojekte. «Nur so können wir die weibliche Genitalverstümmelung überwinden», betont Weil.