Zum Inhalt springen

Grössere Belastung als Corona Der Ukraine-Krieg als kollektiver Schock für Europas Psyche

Laut einer Studie hat der Kriegsbeginn vor zwei Jahren zu einem Einbruch der mentalen Gesundheit in Europa geführt.

Leergefegte Innenstädte, Social Distancing und Weihnachten im engsten Familienkreis – verordnet vom BAG: Während der Pandemie herrschte auch in der Schweiz Ausnahmezustand. Und mit ihm Ungewissheit, Isolation und Ohnmacht. Ein Gemisch, das vielen Menschen aufs Gemüt drückte – und das in ganz Europa.

Kaum neigte sich die Pandemie dem Ende zu, zog neues Ungemach herauf: An der Grenze zur Ukraine marschierten im Februar 2022 Putins Truppen auf – und überfielen das Land schliesslich. Der russische Angriffskrieg löste Schockwellen in ganz Europa aus.

Der Krieg im Kopf

Eine neue Studie im Fachmagazin «Nature Communications» zeigt nun: Die psychische Belastung durch den Kriegsausbruch war für die Menschen auf dem Kontinent grösser als diejenige durch den Corona-Lockdown 2020. Zu diesem Schluss kommt ein internationales Forscherteam.

Der Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor zwei Jahren hat demnach zu einem kollektiven Einbruch des Wohlbefindens geführt – unabhängig von Alter, Geschlecht, politischer Orientierung oder sonstigen Eigenschaften der befragten Personen.

So wurde die Studie durchgeführt

Box aufklappen Box zuklappen

Die von Ende 2021 bis Sommer 2022 durchgeführte Studie ermöglichte eine Untersuchung der täglichen Stimmungsverläufe in den Wochen des Kriegsausbruchs. Die Forschenden konzentrierten sich auf Menschen in Europa und einen zweimonatigen Zeitrahmen um den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022. Unter den 17 untersuchten Ländern ist auch die Schweiz.

Das Ziel der Studie war eigentlich gewesen, die Gefühlslage der Menschen im Zusammenhang mit der Pandemie zu untersuchen. Die genutzten Daten stammen nämlich aus dem Projekt «Coping with Corona», bei dem weltweit das Wohlbefinden der Menschen in der Corona-Pandemie abgefragt wurde. Dabei wurden von Oktober 2021 bis August 2022 in Zusammenarbeit mit 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Daten erhoben. Durch die kontinuierliche Befragung der Menschen konnten auch die Auswirkungen des Kriegsausbruchs in der Ukraine abgebildet werden.

An der Studie waren auch Forschende der Universität St. Gallen beteiligt. Einer von ihnen ist der Verhaltenswissenschaftler Clemens Stachl. «Mit Kriegsbeginn ging es vielen der befragten Personen in Europa im Vergleich mit dem Rest der Welt sehr viel schlechter», erklärt der Mitautor der Studie.

Weit weg und doch sehr nah

Die Einschränkungen der Pandemie betrafen die Menschen zwar unmittelbarer als der Kriegsausbruch in der Ukraine. Doch dem Blutvergiessen tief im Osten Europas konnte sich kaum jemand entziehen: «Neben den offensichtlichen Folgen des Krieges wie Flucht oder unterbrochenen Versorgungsketten gibt es eine weniger offensichtliche Dimension: die Auswirkungen der täglichen Nachrichten und Bilder auf die Psyche», heisst es in der Studie.

Als der Krieg ausgebrochen ist, war man sofort emotional sehr belastenden Bildern ausgesetzt.
Autor: Clemens Stachl Professor für Verhaltenspsychologe an der Universität St. Gallen

Kommt hinzu: Während sich die Pandemie eher schleichend über den Globus ausbreitete, eskalierte die Lage in der Ukraine quasi über Nacht. Aus russischen Muskelspielen an der Grenze zur Ukraine wurde in Windeseile ein ausgewachsener Krieg in Europa. Ein Schrecken, der vielen Menschen durch Mark und Bein ging.

Flüchtlingsfamilie aus Mariupol im Mai 2022 in Saporischja
Legende: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat messbar grössere Spuren bei der mentalen Gesundheit bei Menschen in Europa hinterlassen als die Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 und der Corona-Lockdown im Jahr 2020. Keystone/AP/Francisco Seco

«Als der Krieg ausgebrochen ist, war man sofort emotional sehr belastenden Bildern ausgesetzt», führt Stachl aus. «Kämpfe, Explosionen, Tote – die Bilder erreichten die Menschen von einem Moment auf den anderen.» Wenn der Krieg in der Ukraine in den sozialen Medien besonders stark präsent war, gab es eine durchschnittlich schlechtere mentale Verfassung bei den Befragten.

Unterschiedlich lange Erholungszeiten

Zu dieser ganz konkreten Schockerfahrung kam die abstrakte Angst, dass der Krieg auf ganz Europa ausgreifen könnte. Die Studie kommt auch zum Schluss: Wer sich selbst als psychisch stabil bezeichnet, erholte sich schneller vom Einbruch des mentalen Wohlbefindens. Bei Menschen, die sich als weniger stabil bezeichnen, war dieses für längere Zeit deutlich beeinträchtigt.

Die Studienautoren verstehen dies auch als Aufruf an politische und gesellschaftliche Akteure in Krisenzeiten. «Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Angebote für Leute geschaffen werden sollten, die von solchen Ereignissen besonders betroffen sind», bilanziert Stachl.

Krieg in der Ukraine

Box aufklappen Box zuklappen

SRF 4 News aktuell, 21.03.2024, 06:19 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel