- Die US-Universität Harvard verlieh der deutschen Bundeskanzlerin am Donnerstag die Ehrendoktorwürde.
- Begründung: Merkels Amtszeit sei geprägt gewesen «von Pragmatismus und kluger Entschlossenheit».
- In ihrer Rede rechnet die deutsche Regierungschefin mit dem US-Präsidenten ab.
Rund 20'000 Absolventen und Angehörige, Professoren und Ehemalige feiern die unprätentiös auftretende Kanzlerin am Donnerstag wie einen Popstar. Geschlagene 31 Mal brandet bei Merkels 35-minütiger Ansprache Beifall auf, mehrfach erhebt sich das Publikum, um Merkel stehend Respekt zu zollen.
Besonders viel Beifall gibt es an jenen Stellen, in denen Merkel mit US-Präsident Donald Trump abrechnet. Merkel gelingt dabei das Kunststück, den Namen des US-Präsidenten kein einziges Mal zu erwähnen.
«Mehr multilateral statt unilateral handeln»
Jeder weiss, auf wen Merkel anspielt, wenn sie sagt: «Mehr denn je müssen wir multilateral statt unilateral handeln. Global statt national.» Der bekennende Nationalist Trump scheint dagegen mit seiner «America First»-Politik seit zweieinhalb Jahren daran zu arbeiten, die Nachkriegsordnung auf den Kopf und jahrzehntealte Bündnisse in Frage zu stellen.
«Protektionismus und Handelskonflikte gefährden den freien Welthandel und die Grundlagen unseres Wohlstandes», sagt Merkel – Trump hat zahlreiche Handelskonflikte vom Zaun gebrochen und droht mit Strafzöllen auf Autos aus der EU.
«Innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen»
Merkel fordert auch, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um den Klimawandel in den Griff zu bekommen, und räumt dabei eigene Versäumnisse ein. Trump hat die USA aus dem internationalen Pariser Klimaschutzabkommen zurückgezogen. Merkel sagt, Klimawandel sei vom Menschen verursacht. Trump zweifelt das an (auch wenn er Klimawandel – anders als früher – nicht mehr für einen «Scherz« hält).
Mit Beifall und zustimmendem Gelächter wird Merkels Aussage quittiert, dass schwierige Fragen gelöst werden könnten, «wenn wir bei allem Entscheidungsdruck nicht immer unseren ersten Impulsen folgen, sondern zwischendurch einen Moment innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen». Kaum ein Politiker ist impulsiver als Trump, der seinen Emotionen ungefiltert auf Twitter freien Lauf lässt.
Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.
Die Kanzlerin wirbt für «Wahrhaftigkeit gegenüber anderen und gegenüber uns selbst», und sie sagt: «Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.»
Jubel bricht aus
Kaum etwas ist deutlicher auf Trump gemünzt, der Berichterstattung kritischer Medien «Fake News» nennt und dessen Beraterin Kellyanne Conway den abstrusen Begriff «alternative Fakten» geprägt hat. An dieser Stelle bekommt Merkel besonders grossen Applaus, Jubel bricht aus.
Merkel ist mit ihrer Flüchtlingspolitik auch zur Zielscheibe von Trump geworden, der sie – noch vor seinem Wahlsieg 2016 – als die Person bezeichnete, «die Deutschland ruiniert». Merkel wählt bei ihrer Rede am Nachmittag leisere Worte – und kommt damit in Harvard an.
Harvard nicht repräsentativ
Bei allem Beifall: Harvard ist eine liberale Hochburg in den USA, repräsentativ für die Meinung im Land ist die Hochschule keineswegs. Die Begeisterung für Merkel ist auch darauf zurückzuführen, dass ihre Politik einen Gegenpol zu Trump darstellt.
Dennoch ist bemerkenswert, wie ungemein positiv die Kanzlerin in Harvard aufgenommen wird – während sich in Deutschland auch etliche in ihrer eigenen Partei wünschen, dass sie lieber heute als morgen das Kanzleramt räumt.