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Humanitäres Desaster in Idlib «Das könnte der Anfang eines Krieges sein»

Im seit Monaten umkämpften nordsyrischen Rebellengebiet von Idlib spitzt sich die Situation zu: Jetzt schiessen dort auch türkische und syrische Soldaten aufeinander. Für die Zivilisten bedeute das noch mehr Leid und noch schwierigere Lebensbedingungen, sagt der Journalist Thomas Seibert.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

SRF News: Wie ist die aktuelle Lage rund um Idlib?

Thomas Seibert: Die syrische Regierungsarmee ist seit mehreren Monaten dabei, in Idlib vorzurücken. Sie treibt dabei Türkei-treue Rebellen und viele Zivilisten vor sich her. Sie bewegen sich stetig nach Norden in Richtung der türkischen Grenze. Über Wochen ging das sehr langsam voran, doch in letzter Zeit erzielten die Syrer wichtige Geländegewinne. So eroberten sie letzte Woche die wichtige Stadt Maarat al-Numan.

Türkische Truppen liefern sich Gefechte mit syrischen Regierungsverbänden.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schickte daraufhin mehrere Hundert türkische Militärfahrzeuge in die Region Idlib. Diese Truppen lieferten sich in der Folge Gefechte mit den anrückenden syrischen Regierungsverbänden.

Türkische Soldaten kämpfen gegen syrische Truppen. Stehen die beiden Länder im Krieg miteinander?

Es könnte durchaus der Anfang eines Krieges sein. Die Interessen Syriens und der Türkei in Idlib sind sehr gegensätzlich. Erdogan auf jeden Fall lässt keinen Zweifel daran, dass er seine Soldaten vorerst nicht aus der Region abziehen wird.

Moskau unterstützt auf der einen Seite die Assad-Armee mit Luftangriffen auf Rebellengebiete, andererseits half sie der Türkei, ein kurdisches Autonomiegebiet im Norden Syriens zu verhindern. Wo steht Russland jetzt?

Einerseits möchte Moskau die guten Beziehungen zur Türkei nicht gefährden, denn die beabsichtigte Herauslösung des Landes aus dem Nato-Bündnis lief in den vergangenen Jahren für den Kreml ja prima. Russland muss aber auch darauf achten, dass der Pakt mit der verbündeten syrischen Armee hält. Deshalb wird der Kreml zunächst wohl versuchen, eine Waffenruhe zwischen Syrien und der Türkei zu erreichen. Doch es wird für Moskau sehr schwierig werden, für Idlib eine längerfristige Lösung zu vermitteln.

Die Situation ist eine schwere Belastung für das türkisch-russische Bündnis.

Was bedeutet die aktuelle Situation für das Verhältnis zwischen der Türkei und Russland?

Es ist eine schwere Belastung für das in den letzten Jahren immer enger gewordene Bündnis. Es gibt Anzeichen einer ernsthaften Krise. So hat die Türkei in anderen Teilen Syriens bereits die Zusammenarbeit mit den Russen ausgesetzt oder zurückgefahren. Viele Beobachter glauben, nur ein Treffen zwischen den Präsidenten Erdogan und Wladimir Putin könne die Krise entschärfen.

Kolonne mit Autos, Transportern und LKWs, alle voll beladen mit Möbeln und Haushaltswaren.
Legende: Zehntausende Familien befinden sich in Idlib auf der Flucht. Reuters

In der Region Idlib sind mehrere Millionen Menschen eingekesselt, Hunderttausende sind laut der UNO auf der Flucht. Hilfsorganisationen berichten von dramatischen humanitären Zuständen. Was bedeutet die neuste Entwicklung für die Zivilpersonen in Idlib?

Für sie wird das Leben immer schwerer, zumal Winter herrscht mit viel Regen und tiefen Temperaturen. Viele Flüchtlinge harren an der Grenze zur Türkei aus, doch die bleibt für sie geschlossen. Sie besitzen nicht viel mehr als ein Zelt. Die Türkei versucht immerhin, winterfeste Unterkünfte auf der syrischen Seite zu bauen. Doch die Zahl der Flüchtlinge steigt stetig an, was die Versorgung der Menschen weiter erschwert. Jetzt nähern sich auch noch die Kämpfe, was die Situation umso schwerer macht.

Das Gespräch führte Brigitte Kramer.

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