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Inhaftierter Julian Assange «Fall zeigt ernsthafte Missstände in westlichen Demokratien»

UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer wirft westlichen Staaten vor, am Whistleblower ein Exempel zu statuieren.

Im Mai 2019 hat UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer den Wikileaks-Gründer in britischer Haft besucht. Und er räumt ein, dass er mit Vorurteilen zu kämpfen gehabt hat: «Ich wollte mich nicht von Herrn Assange instrumentalisieren lassen, diesem Vergewaltiger, Narzissten, Spion und Hacker.» Er sei mit diesem, in der Öffentlichkeit verbreiteten Narrativ, in den Fall hineingegangen.

Assanges Anwälte baten den UNO-Folterexperten bereits Ende 2018 um eine Intervention – Melzer lehnte ab. Die Anwälte fürchteten damals, Assange werde aus der ecuadorianischen Botschaft in London ausgewiesen. Die Befürchtungen sollten sich bewahrheiten. Der Australier sitzt nun in britischer Haft, ein Gericht soll über seine Auslieferung an die USA entscheiden.

Nachdem sich Melzer mit der Akte Assange beschäftigt hat, ist ein fundamentaler Sinneswandel bei ihm eingetreten. Die Art, wie mit dem Wikileaks-Gründer umgegangen werde, sei nicht nur eine Gefahr für die Pressefreiheit: «Es gibt Beweise für ernsthafte Missstände in westlichen Demokratien.»

Assange-Unterstützerin in London
Legende: Für die einen ist Assange ein Verräter, für die anderen ein Investigativ-Journalist, der die Wahrheit ans Tageslicht bringen will. Reuters

Doch wie begründet der Schweizer Jurist die schwerwiegenden Vorwürfe? Durch Assanges Anwälte konnte er Einsicht in Dokumente gewinnen, vor allem im Zusammenhang mit den Vergewaltigungsvorwürfen in Schweden: «Diese haben sofort krasse Widersprüche ans Licht gebracht.»

Dies nahm Melzer zum Anlass, eigene Recherchen voranzutreiben. Und wieder sei er auf höchst widersprüchliche Informationen gestossen. «Darum habe ich Assange im Gefängnis besucht.»

«Typische Symptome psychologischer Folter»

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Mit seinem Team traf sich Melzer während vier Stunden mit dem heute 48-jährigen Wikileaks-Gründer. Dabei wurde Assanges körperliche und psychische Verfassung evaluiert, unter anderem von einem auf Folteropfer spezialisierten Psychiater. Im bilateralen Gespräch sei es vor allem um die Haftbedingungen, aber auch Assanges Zeit in der ecuadorianischen Botschaft (2012-2019) gegangen.

«Es hat mich intuitiv an Besuche bei Isolationshäftlingen erinnert, die aus politischen Gründen im Nahen Osten oder auf dem Balkan festgehalten wurden», so Melzer. Die ärztlichen Diagnosen bestätigten den Eindruck: «Assange zeigte typische Symptome psychologischer Folter.»

Ende Juni publizierte Melzer seinen Bericht: «Die Entlarvung der Folter an Julian Assange». Diese sei nicht weniger gravierend als körperliche Peinigung: «Psychische Folter geht direkt auf die Identität eines Menschen. Man probiert, seine Persönlichkeit zu brechen.»

Den Umgang mit Assange vergleicht der UNO-Folterexperte mit Mobbing: «Wenn Menschen gezielt von einer Gruppe ausgeschlossen und gedemütigt werden, kann sie das schwerstem Leid aussetzen und sie sogar in den Selbstmord treiben.» Assange sei von staatlichen Institutionen öffentlich vorgeführt und mit schwersten Vorwürfen eingedeckt worden, ohne realistische Möglichkeiten zu haben, sich zu verteidigen.

Die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange beschreibt der Jurist in seinem Bericht als «abgekartetes Spiel». «Es ist eine heikle Geschichte. Ich habe mich schwergetan, zu diesen Schlüssen zu kommen.»

Unabhängig davon, ob etwas an den Vorwürfen dran sei, sagt Melzer: Es sei nicht um Aufklärung im Interesse der Frauen gegangen, sondern darum, Assange in eine Ecke zu treiben und ihn dort während zehn Jahren zu halten. «Wie sich Schweden in den beiden Fällen benommen hat, deutet darauf hin, dass die Vorwürfe absichtlich für andere Zwecke instrumentalisiert wurden.»

Nils Melzer

UNO-Sonderberichterstatter

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Der Schweizer Jurist Nils Melzer ist seit dem 1. November 2016 UNO-Sonderberichterstatter über Folter. Als solcher hat er Zugang zu allen Haftanstalten in den Nationen, die den Vereinten Nationen angehören und das Völkerrecht anerkennen. Er berichtet über die beobachteten Vorfälle.

Melzer will die Ermittlungen in Schweden nicht alleinig anführen, um den involvierten Staaten eine Verschwörung vorzuwerfen. Was den Juristen irritiert, ist: «Wenn die Rechte einer Einzelperson während zehn Jahren in verschiedenen Staaten in jedem Stadium eines Verfahrens schwerstens verletzt werden, Rechtsmittel nie wirksam werden und sich die betroffenen Staaten weigern, mit mandatierten UNO-Institutionen zu kooperieren – dann ist die Wahrscheinlichkeit einer völkerrechtskonformen Erklärung verschwindend klein.»

Assange-Unterstützer vor Ecuadors Botschaft in London
Legende: In den USA droht Assange eine Verurteilung wegen Spionage, weil er Geheimdokumente der USA veröffentlicht hat – zum Beispiel zum Afghanistan- oder Irak-Krieg. Reuters

Doch hat Melzer Belege dafür, dass die USA, Grossbritannien und Schweden zusammengespannt haben, um Assange zu zermürben? «Man muss sich auf Indizien stützen. Es gibt keine grosse zusammenhängende ‹Papierspur›.»

Fabrizierte Vergewaltigungsvorwürfe?

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Assanges vermeintliches Vergewaltigungsopfer habe SMS aus der Polizeistation verschickt, wonach sie selbst Assange gar nichts vorwerfen wolle, die Polizei aber Vorwürfe fabriziert habe, sagt Melzer. Bei der zweiten Frau, die von Assange belästigt worden sein soll, stellt er zumindest «widersprüchliches Verhalten» fest.

Melzer führt weiter einen öffentlich zugänglichen E-Mail-Verkehr an, indem die britischen Behörden den schwedischen Ermittlern mitteilen sollen, keine «kalten Füsse zu bekommen» und sie davon abbringen wollen, das Verfahren gegen Assange einzustellen.

Auch sei den Schweden mitgeteilt worden, dass es sich nicht um einen normalen Auslieferungsfall handle und es nicht in ihrem Interesse sei, Assange in der Botschaft zu den Vorwürfen zu befragen. «Es ist klar, dass im Hintergrund etwas lief», urteilt Melzer.

Melzer verlangte von den Regierungen Erklärungen. Der Mandatsträger der UNO blitzte aber immer ab. Dies sei, zumindest im Umgang mit «reifen Demokratien», ungewöhnlich. Dass auch Staaten, die normalerweise zu den Advokaten des Folterverbots gehörten, im Fall Assange jede Kooperation verweigern, enttäuscht den UNO-Sonderberichterstatter. «Sie sind nicht willens, sich mit den Fakten auseinanderzusetzen und eigenes Fehlverhalten zu untersuchen.»

Zum ersten Mal könnte ein Journalist zu 175 Jahren Haft verurteilt werden, weil er staatliche Missbräuche veröffentlicht hat.
Autor: Nils Melzer UNO-Folterexperte

Nachdem es lange still um Melzers Bericht war, ist in den letzten Wochen ein regelrechter «Mediensturm» eingetreten – auch durch einen längeren Bericht im Online-Magazin «Republik». Mittlerweile setzen sich auch wieder mehr Intellektuelle, Journalistinnen und Politiker für eine faire Behandlung des Wikileaks-Gründers ein. Das freut Melzer.

Zwar sei der prominente Whistleblower nicht wichtiger als andere Folteropfer. Hier werde aber ein höchst problematischer Präzedenzfall etabliert: «Zum ersten Mal könnte ein Journalist zu 175 Jahren Haft verurteilt werden, weil er staatliche Missbräuche veröffentlicht hat.» Assange habe Belege für Kriegsverbrechen, Folter und Korruption veröffentlicht – ohne, dass diese verfolgt worden wären. «Der Whistleblower aber wird verfolgt.»

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