SRF News: Jean-Claude Juncker hatte vor seinem Amtsantritt im November 2014 gesagt, seine Kommission werde die «Kommission der letzten Chance» sein. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie nach einem Jahr?
Sebastian Ramspeck: Als Juncker diese Aussage machte, konnte er nicht ahnen, wie dringlich sie werden würde. Die Flüchtlingskrise hat die EU in eine der grössten Krisen ihrer Geschichte gestürzt, vielleicht in ihre grösste überhaupt. Denn die Flüchtlingskrise führt die tiefe Gespaltenheit der EU in zentralen Fragen vor Augen. Hier geht es nicht bloss um Geld, hier geht es um Werte, um Identität, um Grenzen. Junckers Bilanz als Kommissionspräsident und sein Platz in den Geschichtsbüchern werden wesentlich vom Fortgang dieser Krise abhängen. Juncker bezieht Position, er scheut nicht den Konflikt mit den 28 EU-Mitgliedsstaaten. Allerdings zeigt er sich selten in der Öffentlichkeit, wirkt oft müde, erschöpft. Er schlägt aus seiner Bekanntheit, seinem Humor und seiner Schlagfertigkeit kaum politisches Kapital.
Die EU macht in der Flüchtlingskrise keine gute Figur. Ist Jean-Claude Juncker schuld daran?
Nein. Jean-Claude Juncker kann für sich in Anspruch nehmen, das Heft in die Hand genommen zu haben. Seine EU-Kommission setzt auf eine Politik, die unterschiedlichste Elemente umfasst. Dazu gehört Hilfe vor Ort, Seenotrettung im Mittelmeer und eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge zwischen den EU-Staaten. Dazu gehört aber auch eine schärfere Kontrolle der EU-Aussengrenzen und die Rückschaffung abgewiesener Asylbewerber. Dass viele dieser Massnahmen nur unzureichend umgesetzt werden, liegt in erster Linie an den Mitgliedstaaten. Allerdings: Juncker hat in der Flüchtlingskrise wenig öffentliche Präsenz markiert und diese Arbeit seinem Stellvertreter Frans Timmermans sowie seinem Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos überlassen. Er hat die Chance verpasst, der EU in dieser Krise ein Gesicht zu geben.
Wie beurteilen Sie Junckers Rolle in der Griechenland-Krise, bei der Abwendung des «Grexit»?
Juncker hat sich als Vermittler zwischen Griechenland und den «Hardliner-Staaten» um Deutschland verstanden. Er hat aber gleichzeitig – in teilweise undurchsichtigen Manövern – versucht, Einfluss auf die immer wieder hochdramatischen Verhandlungen zu nehmen. Dabei ist er bisweilen zwischen Stuhl und Bank gefallen. Von Alexis Tsipras war er persönlich enttäuscht, und er hat seinen Gefühlen freien Lauf gelassen – in einer Zeit, in der Kaltblütigkeit gefragt gewesen wäre. In der 17-stündigen, alles entscheidenden Gipfelnacht vom 12. auf den 13. Juli haben die Staats- und Regierungschefs der Eurozone – Merkel, Hollande, Tsipras & Co. – die entscheidende Rolle gespielt, unter Aufsicht von EU-Ratspräsident Donald Tusk. Juncker war da eher Zaungast.
Was hat Juncker gegen das vielbeschworene Demokratiedefizit unternommen?
Juncker ist der erste EU-Kommissionspräsident, der aus einer Volkswahl hervorgegangen ist. Er war Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei bei den letzten Europawahlen im Mai 2014, war gegen andere Spitzenkandidaten wie zum Beispiel Martin Schulz (Sozialdemokraten), Alexis Tsipras (Linke) oder José Bové (Grüne) angetreten. Durch den Wahlsieg der Europäischen Volkspartei ist Juncker demokratisch stärker legitimiert als seine Vorgänger. Juncker hat aber die Fürsprecher von mehr direkter Demokratie im Zusammenhang mit dem transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP enttäuscht. Seine Kommission wies nämlich eine Bürgerinitiative gegen das Abkommen mit einer formaljuristischen Begründung ab.
Apropos TTIP – wie steht es darum?
Für Jean-Claude Juncker ist das transatlantische Freihandelsabkommen mehr als bloss ein Wirtschaftsabkommen. Er sieht es als Möglichkeit, die strategische Beziehung zu den USA langfristig auszubauen. Als Möglichkeit, einen westlichen Wirtschaftsblock zu schaffen, der mit seinen Regeln die Weltwirtschaft prägt. TTIP soll eine Art «Wirtschafts-Nato» werden. Nun haben allerdings die USA zuerst das transpazifische Freihandelsabkommen TTP abgeschlossen, mit Ländern wie Japan, Australien und Singapur. Ein Fingerzeig für Juncker, ein schmerzlicher Hinweis darauf, dass die TTIP-Verhandlungen weniger gut vorankommen als erhofft. Denn der Widerstand von Gewerkschaften, von Umwelt- und Verbraucherschützern in der EU ist riesig, Junckers Handelskommissarin Cecilia Malmström hat auf die Kritik reagiert und die Vorschläge für ein Investitions-Schiedsgericht überarbeitet.
Junckers grösstes Projekt bei seinem Amtsantritt war die «Investitionsoffensive» mit einem angepeilten Volumen von 315 Milliarden Euro innert drei Jahren. Das Ziel: Jobs und Wachstum schaffen. Was ist daraus geworden?
Nicht sehr viel. Nach meinen Informationen wurden bislang lediglich Garantien in der Höhe von rund fünf Milliarden Euro gesprochen, sie sollen Gesamtinvestitionen in der Höhe von etwa 37 Milliarden Euro zeitigen. Auf jeden Fall ist Juncker von den 315 Milliarden Euro noch Lichtjahre entfernt. Trotzdem erhält er von Unternehmensvertretern im Allgemeinen gute Noten, denn unter dem Schlagwort «Better regulation – bessere Rechtsetzung» hat Junckers Kommission sehr viel weniger neue Gesetze vorgeschlagen als jene seines Vorgängers José Manuel Barroso. Das wiederum missfällt Umwelt- und Verbraucherschützern, aber auch den Sozialdemokraten im EU-Parlament. Sie kritisieren, Juncker gebe Konzerninteressen den Vorrang und betreibe eine wirtschaftsliberale Politik. Die Wirtschaftsentwicklung in der EU verläuft nach wie vor schleppend, immerhin: einen leichten Aufschwung kann Juncker verzeichnen.
Noch vor Ende 2017 werden die Briten über den Verbleib in der EU abstimmen. Was tut Juncker, um den «Brexit» abzuwenden?
Sehr viel. Neben der Flüchtlingskrise und den TTIP-Verhandlungen ist die Grossbritannien-Frage die grösste strategische Herausforderung für Jean-Claude Juncker in den kommenden zwei Jahren. Juncker will Grossbritannien in der EU behalten, als Brücke zu den USA, als ein Land mit grosser liberaler Tradition, als Gegenpol zu Staaten mit etatistischer Tradition wie zum Beispiel Frankreich. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, werden seit Sommer hinter verschlossenen Türen intensive Gespräche über einen «besseren Deal» mit Grossbritannien geführt. Juncker muss zwischen den Wünschen des britischen Premierministers David Cameron und den roten Linien der anderen EU-Regierungen – namentlich bei der Personenfreizügigkeit – abwägen. Bereits beim EU-Gipfel vom 17. und 18. Dezember könnten Resultate auf dem Tisch liegen.
Und last but not least: Wie geht Juncker mit der Schweiz um?
Den Wunsch der Schweiz, das bilaterale Abkommen über die Personenfreizügigkeit neu auszuhandeln, hat Jean-Claude Juncker bisher nicht erfüllt. Einwanderungs-Kontingente und ein Inländervorrang auf dem Arbeitsmarkt sind für ihn tabu. Für die Schweiz ist Juncker ein harter Brocken. Auch in den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen, das in Zukunft Rechtsfragen zwischen der Schweiz und der EU regeln soll, rückt er nicht von seiner Position ab: Wenn der EU-Gerichtshof im bilateralen Verhältnis eine Rolle spielen soll, dann will Juncker, dass die Urteile verbindlich und endgültig sind. Kommissare, die bereit gewesen wären, in anderen Dossiers Entgegenkommen zu zeigen, pfiff Juncker dem Vernehmen zurück. Der Kommissionspräsident hat das Schweiz-Dossier zur Chefsache erklärt. Ob er sich in den Konsultationen mit Bundespräsidentin Sommaruga doch noch auf einen Kompromiss einlässt? In den nächsten Wochen soll darüber informiert werden, ein Datum steht allerdings nicht fest.