SRF News: Belgien hat offensichtlich ein Problem mit der Integration von muslimischen Einwanderern. Weshalb bekundet gerade Belgien in diesem Bereich grössere Probleme als andere Länder in Europa?
Alain Kniebs: Ob die Integration in Belgien insgesamt schlechter ist als in anderen Ländern, ist schwierig zu sagen. Fakt ist allerdings, dass sie in einigen Stadtteilen gnadenlos gescheitert ist. Das gilt vor allem für den Problemort Molenbeek im Westen Brüssels. Dort ist in den letzten 20 Jahren alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen konnte. Es entstand eine Art Parallelwelt , in der sich viele Menschen gar nicht integrieren wollen. Die Stadtverwaltung hat jahrelang nur zugesehen und ist mit der dortigen Situation inzwischen völlig überfordert. Wer schon einmal in Molenbeek war, dem fallen die Unterschiede zum restlichen Belgien sofort auf: Menschen mit Migrationshintergrund leben dort auf sehr engem Raum völlig unter sich zusammen – manchmal nach ihren ganz eigenen Regeln. Viele sind arbeitslos, die Kriminalität ist gross. Belgier meiden den Brüsseler Vorort, sie machen einen grossen Bogen um dieses quasi-Ghetto.
Der Bezirk gilt als Islamisten-Hochburg. Wie muss man sich die Situation in Molenbeek aktuell vorstellen?
Wenn Sie als Tourist durch die Brüsseler Altstadt gehen, fällt Ihnen überhaupt nichts auf, nach Molenbeek sind es aber nur drei Kilometer Luftlinie. Dort sieht die Welt ganz anders aus; es ist, als gebe es einen unsichtbaren Zaun um Molenbeek. In den letzten Tagen kam es zu vermehrten Hausdurchsuchungen und Festnahmen. Immer wieder ist auch von «No-Go»-Zonen die Rede. Das sind Gebiete, in die sich selbst die Polizei nicht mehr hineingetraut. Fachleute warnen schon seit Jahren davor, dass Armut und Perspektivlosigkeit der perfekte Nährboden für radikale Ideen sind, eine Brutstätte für Terroristen. Tatsächlich führen Spuren aller Anschläge der letzten Zeit nach Molenbeek.
Viele Radikale aus Frankreich tauchen in Molenbeek unter.
Schon nach den Anschlägen auf das Satire-Magazin «Charlie Hebdo» im Januar waren die Islamisten in Belgien in den Fokus geraten. Haben die Sicherheitskräfte seither zu wenig unternommen?
Der belgische Premier Charles Michel hat es so ausgedrückt: «Wir haben ein gigantisches Problem», sagte er am Wochenende, während der Innenminister bestätigte: «Wir haben die Lage in Molenbeek nicht mehr im Griff.» Allein das zeugt von einer gewissen Untätigkeit der Politik im Problembezirk. Hinzu kommt die Tatsache, dass Belgien ein kleines Land inmitten Europas ist. Das wissen auch die Terroristen – wie sie auch die Probleme um Molenbeek kennen. Hier tauchen viele Radikale, etwa aus Frankreich, unter. So verschwinden sie vom Radar der französischen Sicherheitsbehörden und bei den belgischen tauchen sie nicht auf. Sie können hier also relativ unbeobachtet viele Dinge tun.
Wie ist denn die Stimmung in der belgischen Bevölkerung, nach den Pariser Anschlägen? Reagieren die Menschen mit Angst oder mit Hass?
Die Betroffenheit ist sehr gross, Paris liegt nur eine gute Zugstunde von Brüssel entfernt. Auch ist die Angst zu spüren, viele Menschen sind misstrauisch. Die Regierung hat inzwischen versprochen, hart durchzugreifen und nicht mehr tatenlos zusehen zu wollen. In Molenbeek solle aufgeräumt werden, sagte der Innenminister. Schon seit den Anschlägen vom Januar in Paris sind zudem überall in den belgischen Städten viele Sicherheitskräfte sichtbar präsent.
Das Gespräch führte Susanne Schmugge.