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Krieg in der Ukraine «Amnesty hat mehrere wahllose russische Angriffe dokumentiert»

Die Kämpfe in der Ukraine sind intensiver geworden. Der ukrainische Rettungsdienst spricht von mehr als 2000 getöteten Zivilpersonen. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International greift das russische Militär wahllos Wohngebiete und Spitäler in der Ukraine an. Amnesty spricht von einem Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht und von möglichen Kriegsverbrechen. Beat Gerber, Mediensprecher von Amnesty Schweiz, nimmt Stellung.

Beat Gerber

Amnesty International Schweiz

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Beat Gerber ist Mediensprecher der Schweizer Niederlassung von Amnesty International.

SRF News: Um was für Vorfälle handelt es sich?

Beat Gerber: Amnesty International hat in den letzten Tagen mehrere wahllose Angriffe durch die russische Armee dokumentiert, darunter solche, die gegen Spitäler, Schulen und Wohnhäuser gerichtet waren. Dabei lässt sich auch der Einsatz von Streumunition belegen. Das zeigt, dass die russische Armee bei ihrem Vorstoss zunehmend zivile Opfer in Kauf nimmt. Bei mindestens zehn Vorfällen mit verletzten und getöteten Zivilisten können wir gesichert sagen, dass gegen humanitäres Völkerrecht verstossen wurde. Mutmasslich handelt es sich hierbei um Kriegsverbrechen.

Können Sie uns ein Beispiel eines Vorfalls nennen, den Amnesty International dokumentiert hat?

Am letzten Freitag wurde ein Kindergarten im Nordosten des Landes von Streumunition erfasst, die von einer russischen Uragan-Rakete stammte. Drei Zivilisten, darunter ein Kind, wurden getötet. Unsere Recherchen haben gezeigt, dass das verwendete Geschoss von einem Raketenwerfer abgefeuert wurde, was extrem unpräzis ist. Eine solche Rakete dürfte niemals in dicht besiedeltem Gebiet eingesetzt werden und schon gar nicht in der Nähe einer schulischen Einrichtung.

Es ist bereits der vierte Angriff in diesem Konflikt, der eine Schule oder einen Kindergarten getroffen hat, den wir vonseiten von Amnesty verifizieren konnten. Der wahllose Beschuss ziviler Einrichtungen kann ein Kriegsverbrechen darstellen. Dieser hat offenbar System. Das zeigt im Moment auch die massive Zerstörung von Wohnhäusern durch wahllosen Artilleriebeschuss, wie wir ihn in Charkiw oder Mariupol sehen.

Amnesty International ist derzeit nicht selbst vor Ort in der Ukraine. Wie gehen Sie bei der Untersuchung von Vorfällen konkret vor?

Bereits wenige Stunden nach dem Einrücken der russischen Truppen haben wir ein Krisenteam mobilisiert, das «Crisis Evidence Lab». Das sind Spezialisten, die Video- und Fotomaterial von Angriffen auswerten und diese mit Satellitenbildern und Open-Source-Informationen abgleichen. Beigezogen werden Waffenexperten, die mittels Bildauswertungen von Waffenrückständen oder Videoforensik den Ursprung solcher tödlicher Angriffe nachverfolgen können.

Factsheet

Sobald es die Sicherheitslage erlaubt, werden wir auch ein Rechercheteam an den Ort der Kampfhandlungen entsenden. So wollen wir weitere Beweise und Zeugenaussagen einholen.

Wie können Sie sicherstellen, dass die Vorfälle auch tatsächlich so stattgefunden haben?

Die Unterscheidung von Fakten und Kriegspropaganda ist eine zentrale Aufgabe, die wir zu leisten haben. Wir machen das mit grösstmöglicher Sorgfalt. Wir werten die Quellen sehr präzise aus und achten extrem darauf, dass wir nicht in Fallen tappen und Kriegspropaganda auf den Leim gehen. Zentral ist, dass die Informationen gegengeprüft werden. Wir müssen sie mit unterschiedlichen Quellen abgleichen, um sicher zu sein, dass wir es mit echtem Material zu tun haben. Das können wir in mindestens zehn Fällen machen.

Das Gespräch führte Zoe Geissler.

SRF 4 News, 03.03.2022, 07:45 Uhr ; 

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