In Peking fand heute die grösste Militärparade in der chinesischen Geschichte statt. Die Volksrepublik feiert das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren. Dieser hat in China nicht wie in Europa im Mai 1945 aufgehört, sondern erst einige Monate später, mit der Kapitulation Japans am 2. September. Historikerin Ariane Knüsel ordnet die Parade ein.
SRF News: Was sagt die Militärparade über das Verhältnis Chinas zum Zweiten Weltkrieg aus?
Ariane Knüsel: Die offizielle chinesische Geschichtsschreibung interpretiert den Zweiten Weltkrieg anders als die westliche Geschichtsschreibung, weil sie den Fokus sehr stark auf chinesische Opfer legt. Dadurch will sie zum einen die eigene Bevölkerung mobilisieren, indem sie besonders auf die japanischen Kriegsverbrechen hinweist und auf Japans Weigerung, diese aufzuarbeiten. Zum anderen benutzt sie aber auch eine eigene Interpretation des Zweiten Weltkrieges, um Machtansprüche auf Gebiete im Ostchinesischen Meer und Taiwan zu erheben.
Wie legitimiert China seinen geopolitischen Anspruch über die Geschichte?
Man zeigt eben, welche riesigen Opfer China im Namen des Kampfes gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg auf sich genommen hat. Deshalb verlangt China auch heute den Respekt für diese Taten von damals. China war nach dem Zweiten Weltkrieg ein Teil dieser vier «Weltpolizisten», wie man das damals genannt hat, zusammen mit der Sowjetunion, Grossbritannien und den USA. Und die Volksrepublik sagt: «Wir haben diesen Platz auch heute noch verdient.»
Hat China die eigene Geschichte schon immer auf diese Weise erzählt?
Die Interpretation des Zweiten Weltkrieges in der offiziellen chinesischen Geschichte hat sich in den letzten Jahrzehnten relativ stark geändert. Weil das grosse Problem, das die Kommunisten haben, ist: Die chinesischen Truppen, die im Zweiten Weltkrieg massgeblich gegen die Japaner gekämpft haben, waren die Truppen der offiziellen Regierung, der Nationalisten. Und das waren die Feinde der Kommunisten. Also hat man sich besonders in den Anfangsdekaden der Volksrepublik China unter Mao Zedong geweigert, gross über diesen Krieg zu sprechen und die militärischen Erfolge der Nationalisten hervorzuheben. In den 90er-Jahren hat sich das gewendet.
Die Rolle der Nationalisten im Zweiten Weltkrieg wird nicht mehr so verteufelt, wie das früher gemacht wurde.
Man merkte immer mehr, dass man die Bevölkerung sehr stark mobilisieren kann, wenn man auf die japanischen Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg in China hinweist. Die Rolle der Nationalisten im Zweiten Weltkrieg wird nicht mehr so verteufelt, wie das früher der Fall war.
Inwiefern wird mit der Parade die eigene geopolitische Vormachtstellung durch das historische Narrativ untermauert?
Die offizielle chinesische Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges und auch die Machtansprüche gegenüber Taiwan, also dass Taiwan ein Teil der Volksrepublik sei, basieren auf einer speziellen Interpretation der Abkommen, die zum Südchinesischen, Ostchinesischen Meer und auch zu Taiwan gemacht wurden. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Abkommen, in welchen die Alliierten unter sich ausmachten, was mit diesen Gebieten geschehen solle. Die Volksrepublik China beruft sich jetzt auf zwei Abkommen von 1943 und 1945, die besagen, dass diese Gebiete wieder zurück nach China sollen. Sie brauchen das als Argument, dass Taiwan nicht ein eigener Staat sein darf.
Das Interview führte Julius Schmid.