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Kriegsgegner in Russland «Mit einem Gefangenen kann man alles machen»

Wer Frieden fordert, kann in Russland im Straflager landen. Ex-Häftlinge berichten über Willkür und Gewalt.

Sascha Skotschilenko wirkt müde, aber erlöst. «Wenn Sie sich absolutes Glück vorstellen und noch ein bisschen Glück dazugeben, dann wissen Sie, wie ich mich fühle», sagt die 33-jährige Künstlerin aus St. Petersburg gegenüber der «Rundschau». «Aber natürlich bin ich auch traumatisiert. Ich kann kaum ohne Licht schlafen, habe Angst vor lauten Geräuschen und vor Orten mit vielen Menschen.»

Lange Haft für kriegskritische Slogans

Vor drei Wochen wurde Skotschilenko aus der russischen Untersuchungshaft entlassen, beim grössten Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit dem Kalten Krieg. Sie sass zweieinhalb Jahre in Haft, weil sie in einem Supermarkt Preisschilder mit Etiketten vertauscht hatte, auf denen kriegskritische Slogans standen. Der Fall wurde für viele kritische Russinnen und Russen zum Symbol für die Auswüchse des Unrechtsstaats seit Kriegsbeginn.

Skotschilenko ist unerwartet freigekommen. Viele andere, die in Russland den Krieg kritisiert haben, sitzen noch immer lange Haftstrafen ab. Gemäss der Menschenrechtsorganisation OVD-Info laufen über 1000 Strafverfahren gegen Kriegsgegnerinnen und -gegner. Rund 300 sitzen in Untersuchungshaft, psychiatrischen Kliniken oder Straflagern.

Nach Kriegsbeginn hat der Staat über 40 neue repressive Gesetze verabschiedet. Unter anderem jenes zu sogenannten Falschaussagen über die Armee. Wer der offiziellen Sicht des Verteidigungsministeriums widerspricht, riskiert bis zu 15 Jahre Gefängnis.

Einschüchterungen, Schläge, Folter

Auch Boris Romanov müsste in einem Straflager sitzen. Der Lehrer hat kurz nach Kriegsbeginn den Abgeordneten eines lokalen Parlaments zum Rückzug der russischen Truppen aus der Region Kiew gratuliert – und damit gemäss Anklage «bewusst falsche Informationen über die russischen Streitkräfte» verbreitet.

Das Verdikt des Gerichts: Sechs Jahre Straflager. In der Untersuchungshaft wurde Romanov nach eigenen Angaben zur Einschüchterung geschlagen. Auch wurde er Zeuge von Gewalt an anderen Insassen.

Die Zustände in russischen Gefängnissen werden von Menschen­rechts­organisationen seit Langem kritisiert. Es werde sicher nicht jeder Insasse misshandelt, sagt Jury Borovskikh, Leiter der Gefangenen­rechts­organisation «Russland hinter Gittern». Doch die Willkür sei gross: «Das Schicksal eines Gefangenen hängt einzig von der Gefängnisleitung oder wichtigeren Personen ab. Mit einem Insassen kann man alles machen. Man kann ihm die Haftbedingungen unerträglich machen. Man kann ihn schlagen, foltern oder in den Krieg schicken.»

Flucht ins Ausland

Boris Romanov ist das Straflager schliesslich erspart geblieben. Denn vor seinem Urteil wurde er unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Ihm gelang die Flucht ins Ausland. Warum hat man ihn gehen lassen?

«In Russland haben wir keinen Stalinismus», sagt Romanov. «Das Regime will keine Massen politischer Gegner in seinen Lagern. Viel angenehmer für sie ist es, wenn diese Leute ins Ausland gehen. Dann kann das Regime sagen: Seht, die gehen und lassen Russland im Stich.» 

Diese Logik scheint vor allem bei bekannten Gesichtern zuzutreffen. Beim Gefangenenaustausch vom 1. August wurden russische Oppositionsführer gar gegen ihren Willen aus dem Gefängnis entlassen und ins Ausland abgeschoben. Viele einfache Bürgerinnen und Bürger hingegen, die es gewagt haben, Frieden zu fordern, sitzen noch immer.

Krieg in der Ukraine

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SRF-Rundschau, 21.8.2024, 20:05 Uhr;kobt

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