Im Frühjahr kritisierten gleich neun Mitgliedsländer des Europarats – darunter Grossbritannien, Polen, Dänemark und Österreich – den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) äusserst scharf. Er schränke ihre Handlungsfreiheit in der Asyl- und Migrationspolitik viel zu sehr ein.
Anders ausgedrückt: Die Strassburger Richter urteilten zu zuwanderungsfreundlich.
Unter dem Einfluss von Rechtsaussenparteien wollen die meisten europäischen Regierungen ihre Ausländerpolitik verschärfen. Damit geraten die Europäische Menschenrechtskonvention und der Menschenrechtsgerichtshof enorm unter Druck.
EGMR soll weiterhin unabhängig urteilen können
Alain Berset, der Generalsekretär des Europarats, lancierte nun eine Entlastungsoperation. Er berief alle 46 Mitgliedsländer zu einem Ministertreffen ein. Und er räumte ein: Die Europäische Menschenrechtskonvention sei in vielen Ländern zu einem politischen Reizthema geworden.
Berset will den Gerichtshof aus der Schusslinie nehmen und die Unabhängigkeit des Gerichts sicherstellen. Er will eine breite politische Debatte über die Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik beginnen. Das sei derzeit nicht einfach: «Ist man sich einig, sind Debatten einfach. Aber gerade, wenn es schwierig wird, sind sie unverzichtbar.»
Nach dem Ministertreffen nannte Berset die Diskussion «freimütig». Er wählte also die diplomatische Umschreibung für harte Auseinandersetzungen. Immerhin hat er erreicht, dass sich sämtliche Mitglieder wieder zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zum EGMR bekannten. Wenigstens im Prinzip.
Niemand tritt aus der Menschenrechtskonvention aus
Vorläufig scheint damit die Gefahr gebannt, dass etliche Staaten aus der Konvention und damit aus dem Europarat austreten. Für Berset selber ist die Menschenrechtskonvention das Fundament des europäischen Rechtssystems. Um indes auch die Kritiker an Bord zu halten, musste er betonen, die Konvention sei ein «lebendiges Instrument».
Will heissen: Was in den 1950er-Jahren festgelegt wurde, könnte man angesichts der veränderten Umstände und der heutigen Probleme auch verändern oder anders interpretieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um die Ausschaffung krimineller Migranten, um Familienzusammenführungen, um die Zustände in Flüchtlingslagern oder generell um die Rechte von Zuwanderern und Asylbewerbern geht. Das dürfte bedeuten: mehr Härte. Weniger Grosszügigkeit.
Regierungen sollen mehr Spielraum erhalten
In den kommenden Monaten wird also eine politische Erklärung formuliert und dann im Frühjahr 2026 verabschiedet. Sie soll einerseits ein Bekenntnis zur Menschenrechtskonvention und zur Unabhängigkeit des Gerichts enthalten. Sie soll den Regierungen aber auch mehr Spielraum geben, selber zu bestimmen, wie sie ihre Ausländerpolitik gestalten. Laut Berset ist das kein Widerspruch.
Das ist eine äusserst optimistische Sicht. Denn im konkreten Einzelfall klaffen derzeit die Interessen und Menschenrechte von Zugewanderten und die Ziele und Entscheidungen von Regierungen immer häufiger und immer weiter auseinander.